Will auch im Ruhestand noch einiges bewegen: Hubert Seiter, Chef der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

Ohne die Zuwanderer, die hier arbeiten und Beiträge zahlen, hätte die Rentenversicherung „ein richtiges Problem“, sagt Hubert Seiter, Chef der Rentenversicherung Baden-Württemberg, im Interview.

Herr Seiter, Sie gehen mit 65 in Rente. Chefs arbeiten oft länger. Haben Sie darüber nachgedacht, weiter zu arbeiten?
Es gab die Anfrage, ob ich verlängern wolle, und viele hätten darauf gewettet, dass ich länger mache. Vor gut einem Jahr habe ich mich entschieden, dass mit 65 Schluss ist. Was ich bis dahin nicht geschafft habe, das schaffen meine Kollegen und die Nachfolgerin oder der Nachfolger. Im Übrigen beabsichtige ich nicht, die nächsten Jahre nur im Bett zu verbringen.
Steht schon Ihr Nachfolger fest?
Nein.
Sie verlassen die Rentenversicherung Ende des Jahres, und noch ist kein Nachfolger benannt?
Die Selbstverwaltung, die das entscheidet, weiß solche wichtigen Prozesse spannend zu gestalten. Im Ernst: Das Auswahlverfahren verläuft planmäßig und auf hohem Niveau.
Wird es möglicherweise eine Frau?
Die Chancen stehen nicht schlecht für eine qualifizierte Frau im Geschäftsführergremium. Es wäre auch gut, wenn sich auf Chefebene ein bisschen die Verhältnisse im Haus widerspiegeln würden. Die Rentenversicherung Baden-Württemberg beschäftigt deutlich über zwei Drittel Frauen. Wir haben Mentoringprogramme, um Nachwuchsfrauen zu fördern. Wenn eine Frau in diesem Haus Karriere machen will, kann sie es tun. Ich finde das hervorragend.
Es ist also eine Frau im Rennen?
Es sind mehr Frauen als Männer im Rennen.
In Frankreich soll das Rentenalter 2019 von 62 auf 63 Jahre steigen. Bis das Rentenalter in Europa vereinheitlicht ist, dauert es noch.
Wir haben viel erreicht: Quer durch Europa ziehen die Menschen der Arbeit nach. Wir haben eine einheitliche Währung. Es ist aber eine Enttäuschung für mich, dass es noch nicht gelungen ist, die Sozialsysteme anzugleichen. Es ist bedauerlich: Sozialpolitik spielt immer nur dann eine Rolle, wenn es um Krisen geht wie jetzt um Flüchtlinge.
Mehr als jeder zehnte Versicherte in der deutschen Rentenversicherung hat inzwischen einen ausländischen Pass. Wie stünde sie ohne die Zuwanderer da?
Dann hätten wir ein richtiges Problem.
Wie sich die Flüchtlinge auf die Rentenversicherung auswirken, ist fraglich. Sind seröse Prognosen überhaupt möglich?
Bei einem Umlagesystem wie der Rentenversicherung gibt es immer Unwägbarkeiten. Wie sich das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern ändert, ist 30 Jahre im Voraus nur schwer zu sagen. Ein rohstoffarmes Land wie Deutschland braucht junge, engagierte, qualifizierte, motivierte Fachkräfte auf möglichst hohem Niveau. Da gibt es sicherlich eine ganze Menge, die aus dem Flüchtlingsstrom gewonnen werden können. Die Offenherzigkeit, die derzeit insbesondere die Industrie zeigt, lässt erahnen, dass diejenigen, die jetzt bei uns ankommen, tendenziell die besser Qualifizierten sind. Unter dem Strich gilt: Versicherungspflichtig beschäftigte Zuwanderer sind für die Rentenversicherung ein Gewinn!
Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge ist jünger als 25. Was kann die Rentenversicherung tun, damit die Menschen hier Arbeit finden?
Wir bieten an, schnell zu helfen und die Arbeitsagentur zu unterstützen. Wir haben bei der Rentenversicherung in Baden-Württemberg viele Sozialmediziner und Nachwuchsjuristen, die helfen könnten, Flüchtlinge zu untersuchen und berufliche Perspektiven schnell abzuklären. Wir können die Menschen nicht zwei, drei Jahre irgendwo sitzen lassen. Das ist zum einen teuer, zum anderen ist das für die Menschen frustrierend. Sie werden dabei krank, und obendrein verfällt ihre Qualifikation.
Gibt es weitere Überlegungen?
Wir prüfen, ob in unseren Rehakliniken Kinder und Jugendliche, die schwer traumatisiert sind, behandelt werden können. Es gibt Überlegungen, unsere Berufsförderungswerke, die jetzt Deutschkurse und Qualifizierungen für Spätaussiedler anbieten, auch für Flüchtlinge zu öffnen. Genauso schauen wir uns leer stehende Gebäude der Rentenversicherung an, ob sich da Flüchtlinge unterbringen lassen.
Was hätten Sie noch gerne zu Ende gebracht?
Richtig gern hätte ich noch mitgewirkt, den Übergang in die Rente zu flexibilisieren. Heute gilt das Alles-oder-nichts-Prinzip – entweder Rente oder Arbeit. Viel besser wäre doch, Rente und Erwerb nebeneinander zu stellen. Für mich ist es ein Kardinalfehler, dass wir Menschen durch eine fixe Altersgrenze aussortieren und uns dann wundern, wenn Kompetenz fehlt. So schwer kann es doch nicht sein, ein langsames Ausschleichen aus der Arbeit bei gleichzeitigem Anwachsen der Rente unbürokratisch zu ermöglichen. Dazu fehlt bisher der politische Wille.
Noch eine offene Baustelle?
Zehn Jahre nach der Organisationsreform der Rentenversicherung ist eine Bestandsaufnahme fällig, was gut und was schlecht läuft. Die ganz bewusst regional aufgestellte Rentenversicherung Baden-Württemberg zeigt, was in Sachen Beratung unserer Versicherten und der Arbeitgeber möglich ist. Wir kennen die Verhältnisse vor Ort und arbeiten schnell und unbürokratisch. Ich fände es gut, wenn diese Stärke anerkannt und nicht als Bedrohung der Zentrale in Berlin verstanden würde. Die Angst, dass Stellen wegfallen könnten, ist unbegründet. Hier ließen sich Lösungen finden. Arbeit gibt es genug.
Viele Rentner haben sich dieses Jahr gefreut: Es gab eine nennenswerte Rentenerhöhung. 2016 soll es noch spürbar mehr werden. Ist die Sorge vor Altersarmut übertrieben?
Wer später nur von Rente lebt, nicht durchgängig gearbeitet hat und nicht ordentlich entlohnt wurde, der wird im Alter Probleme bekommen. Der hat sie aber vermutlich schon jetzt.
Worauf müssen sich die Menschen einstellen bei der Rente? Auf ernüchternde Nachrichten?
Die Höhe der Rente allein ist zwar kein Indiz für Altersarmut. Es gibt Menschen mit kleiner Rente, die Geld haben. Manche haben eine gute Betriebsrente, oder es gibt mehrere Renten in einer Familie. Wir müssen den Menschen aber immer wieder klarmachen: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit mit gutem Verdienst und einer auskömmlichen Rente. Sonst wird unser Versicherungsprinzip infrage gestellt. Eine gute Rente gibt es nicht aus wenig oder schlecht bezahlter Arbeit.
Gegen das Prinzip wird gelegentlich verstoßen.
Unsere Selbstverwaltung muss permanent alle denkbaren Stellschrauben mit hoher Transparenz diskutieren: die Erhöhung des Beitragssatzes, das Renteneintrittsalter, Leistungskürzungen und nicht zuletzt die Ausweitung von gesundheitsfördernden Maßnahmen zum Erhalt der vollen oder teilweisen Erwerbsfähigkeit. Der Politik darf man diese Themen nicht alleine überlassen.
In den vergangenen 15 Jahren haben Rentner deutlich an Kaufkraft verloren.
Das stimmt, aber Arbeitnehmer haben in den zurückliegenden Jahren auch an Kaufkraft verloren oder kaum dazugewonnen. Wenn die Löhne so wie in den vergangenen zwei Jahren steigen, gibt es auch mehr Rente. Die erwarteten vier Prozent Rentenerhöhung 2016 haben eine Logik. Im System folgt die Rentensteigerung der Steigerung der Erwerbseinkommen.