In Erbstetten wird ein vergifteter und verletzter Greifvogel gefunden. Mehreren Menschen verdankt er sein Leben – wir waren bei der Auswilderung dabei.
Der gefiederte Körper ist zusammengesunken, der Kopf seitlich weggeknickt, die Zunge hängt heraus. Der Greifvogel, den Falknerin Sandra Hildebrandt auf dem Arm hält, sieht ziemlich abgelebt aus. „Bei Gefahr stellen sie sich tot – das ist ziemlich typisch für Rotmilane“, erklärt sie.
Der Vogel hat keine Ahnung, dass er nach einer langen Zwangspause gleich in die Freiheit entlassen wird, und zieht vorsichtshalber eine Show ab. Vor einem guten Monat hatte es jedoch tatsächlich so ausgesehen, als seien seine Tage gezählt.
Vergiftet und verletzt: Wie dem Greifvogel geholfen werden konnte
Dass der Rotmilan wieder seine Kreise am Himmel ziehen kann, ist gleich mehreren Menschen zu verdanken. Vor einem guten Monat waren Annerose und Jürgen Bausch zu Fuß zu einem Bauernhof beim Burgstettener Ortsteil Erbstetten (Rems-Murr-Kreis) unterwegs, als sie am Waldrand den auf dem Boden sitzenden Vogel bemerkten. „Ich habe gleich gesagt, er schaut uns hilfesuchend an“, erinnert sich Annerose Bausch. Das Ehepaar benachrichtigte das Forstamt Backnang, welches wiederum die Wildtierbeaufragte des Landkreises, Hannah Held, schickte.
Mit einer Beschreibung des Fundorts entdeckte diese tatsächlich den Rotmilan. Er war in einem schlechten Zustand: „Ich habe erst gedacht, er sei bereits tot“, erzählt die Wildtierbeauftragte. Als sie realisierte, dass der Vogel – gerade noch so – am Leben war, brachte sie ihn zunächst zu sich nach Hause. Ein Bekannter empfahl ihr das Greifvogelzentrum Falconis von Sandra Hildebrandt, die ihn abholte.
Um den Rotmilan stand es schlecht
Das Zentrum befindet sich zwar im Kreis Göppingen, dennoch ist es im Rems-Murr-Kreis nicht unbekannt. Unter anderem, weil im Sommer 2022 Tausende Menschen in den sozialen Medien am Schicksal des Falkenkükens „Winni“ Anteil nahmen. Der kleine Turmfalke war im Sommer 2022 von Polizisten des Winnender Reviers entdeckt und zu Hildebrandt gebracht worden.
Wie schlecht es um den Rotmilan stand, zeigt ein Video. Der Schnabel zuckt, seine Pupillen scheinen zu flackern. „Das war ganz typisch für ein Anflugtrauma“, sagt Sandra Hildebrandt. Doch damit nicht genug: Der Rotmilan hatte stark verfärbte Schleimhäute – Vergiftungserscheinungen. Hildebrandt vermutet, dass der Greifvogel wegen der Vergiftung einen Unfall hatte – etwa gegen ein Auto oder eine Fensterscheibe geprallt ist.
Vergiftete Greifvögel sind keine Seltenheit
Woher das Gift kam, ist unklar. Aber gerade Rotmilane sind in dieser Hinsicht gefährdet: „Sie fressen viel Aas. Und wenn zum Beispiel ein vergifteter Nager noch Giftstoffe enthält, nehmen auch die Greifvögel diese auf“, sagt Hildebrandt. Seit vergangenem Frühjahr habe es einen signifikanten Anstieg von Vergiftungen bei Greifvögeln gegeben.
Fünf Tage musste die Falknerin den majestätischen Vogel mit Flüssignahrung am Leben erhalten, doch nach einer Weile zeigte ihre doppelte Therapie gegen das Schädel-Hirn-Trauma und gegen die Vergiftung doch noch Wirkung. Rund einen Monat dauerte es insgesamt, bis der Rotmilan in einer der großen Trainingsvolieren des Greifvogelzentrums wieder zu Kräften kam. „Wenn man ihn wieder auswildert, muss ein Vogel sich schließlich selbst versorgen können.“ Tatsächlich kam der Milan durch.
Rotmilan wird von Krähen attackiert
Doch die Natur kann grausam sein. Auch für den Rotmilan gibt es bei seiner Auswilderung erst einmal keine Verschnaufpause: Nach wenigen Metern seines Freiheitsflugs nähern sich zwei Krähen, die sich in einem nahen Baum versteckt hatten. Gnadenlos attackieren sie den Greifvogel mit Schnabelhieben aus vollem Flug. „Vermutlich haben die ihr Nest in der Nähe“, sagt Hildebrandt, die schon fürchtet, den Milan wieder einsammeln zu müssen. Krähen können Greifvögel schwer verletzen – auch solche Patienten hat das Greifvogelzentrum Falconis schon versorgt.
Doch nach einer Weile bekommt der Rotmilan Thermik unter seine Schwingen, er bringt Abstand zwischen sich und die Rabenvögel und erreicht einen Baum, auf dem er sich ausruhen kann. Kurz darauf kreist dort ein zweiter Milan – „möglicherweise ist das sogar sein Partner“, sagt Hildebrandt. In dem Fall wäre die Auswilderung sogar eine Familienzusammenführung. Bleibt zu hoffen, dass der Rotmilan bei seinem nächsten Mahl etwas wählerischer ist.
Herrscher der Lüfte
Rotmilan
Rotmilane sind in Zentral-, West- und Südwesteuropa zuhause und werden mit einer Spannweite von bis zu 1,80 Meter größer als ein Mäusebussard. Im Flug sind sie gut anhand ihrer gegabelten Schwanzfedern zu erkennen, auch ihre weißen Flügelfelder vor den tief gefingerten schwarzen Handschwingen sind auffällig.
Zentrum
Im Greifvogelzentrum Falconis im Filstal kümmert sich die nebenberufliche Falknerin Sandra Hildebrandt um verletzte und kranke Greifvögel. Das Zentrum finanziert sich durch Spenden – und durch Patenschaften, die Förderer übernehmen können.