In den Abendstunden ist Matera stimmungsvoll beleuchtet. Foto:  


Vom Armenhaus zum stolzen Aushängeschild: Um 1950 galt die Höhlenstadt als Schandfleck Italiens. Heute glänzt Matera als Filmstadt – und als Europäische Kulturhauptstadt 2019. Die Geschichte einer Transformation. Franziska Horn

Matera - Der Tourist klingt aufgeregt. Mit schnellen Schritten läuft er auf der felsigen Terrasse vor der Höhlenkirche Santa Maria di Idris auf und ab, den Blick auf die verwinkelte, uralte Höhlenstadt gerichtet, deren Tuffstein warm in der Nachmittagssonne leuchtet. Er blafft in sein Telefon: „Schnapp dir ein Ticket und komm hierher. So was hast du noch nicht gesehen! Eine Stadt aus Stein, in eine Schlucht gebaut, mit unterirdischen Stadtvierteln. Unglaublich.“

Wer erstmals nach Matera kommt, braucht Zeit, dieses Gewirr aus Treppen, Mauern und Winkeln zu verstehen, das sich in die zwei Altstadtviertel Sasso Barisano und Sasso Caveoso teilt. „I Sassi“, so heißt das alte Zentrum, bedeutet „Steine“, es zieht sich oberhalb der steilen Gravina-Schlucht hinauf und gleicht mehr einer Festung als einer gewachsenen Stadt. Hier in der alten Hauptstadt Lukaniens, früherer Name der Basilikata, lebten in den 1950er Jahren rund 15 000 Menschen in 3000 Höhlen, unter katastrophalen hygienischen Umständen, ganze Sippen pro Höhle zusammen mit dem Vieh, Hühnern, Schweinen, Mulis. Krankheiten wie Malaria, Typhus oder Cholera brachen aus. Die Kindersterblichkeit lag bei 50 Prozent, die höchste Rate Italiens. Abgeschnitten von der Außenwelt fristeten die Bewohner ein karges Dasein.

Bis der Schriftsteller Carlo Levi in die Region verbannt wurde und er Matera in seinem 1945 erschienenen autobiografischen Roman „Christus kam nur bis Eboli“ beschrieb. Darin verglich er die dortigen Zustände mit Dantes Inferno. Levis Buchtitel verweist auf eine Welt jenseits von Religion oder Zivilisation – eine Hölle, ein Niemandsland. Die Öffentlichkeit empörte sich. „Vergogna nazionale“, Schandfleck Italiens, so bezeichneten die Politiker Togliatti und de Gasperi das Elend. Per Gesetz zwang man die Bewohner, Bauern und Handwerker, ab 1952 in neu errichtete Modellwohnungen. Die Höhlen wurden zur Sperrzone erklärt, verfielen, das Betreten war verboten, zuletzt sollten sie abgerissen werden. Doch die Studentenbewegung „Circolo La Scaletta” erkannte den historischen Wert dieser Stätte, wehrte sich, fand Unterstützer. Die Höhlen blieben – als Mahnmal der Geschichte.

Der Niedergang begann mit Napoleon

Man stelle sich eine imaginäre Webcam vor, oben auf dem Karstrücken der Murgia Timone, den Fokus auf den Hügel der Cività mit der alten Stadtsiedlung gerichtet? Was würde sie aufzeichnen? Nichts weniger als die gesamte Geschichte der Menschheit. Sie würde Höhlenmenschen auf der Suche nach Nahrung und Wasser filmen, den Beginn des Ackerbaus, erste Bauern und Händler beobachten und wie Menschen die natürlichen Höhlen im Karst tiefer gruben, da dort die Temperaturen das Jahr über konstant blieben. Sie würde die Ankunft der Griechen dokumentieren, dann die Römer, die Langobarden, die Mönche aus Byzanz, schließlich die Sarazenen und Normannen. Als Napoleon Potenza um 1806 zur Provinzhauptstadt von Lukanien machte, begann Materas Niedergang in die Verarmung und Isolation.

Heute glänzt das Armenhaus als stolzes Aushängeschild des Südens: Die 60 000-Einwohner-Stadt jubelte, als Matera den Zuschlag zur Europäischen Kulturhauptstadt 2019 erhielt, zusammen mit dem bulgarischen Plowdiw. Wie konnte der Außenseiter Matera gegen berühmte Konkurrenten wie Siena, Ravenna oder Perugia gewinnen, als erste Stadt überhaupt aus dem Mezzogiorno, dem tiefen Süden, wo die Terroni leben, die Erdfresser, so verspotten die Nachbarn im Norden ihre Landsleute an der Stiefelspitze?

Einen Steinwurf von der Felsenkirche Santa Maria di Idris entfernt sitzt Vincenzo Altieri (47) auf der Terrasse seines Bed and Breakfast namens „La Dolce Vita“. Sein Blick schweift über das in der Sonne ausgebreitete Panorama des Viertels Caveoso. „Als ich mein Hotel vor 20 Jahren aufmachte, gab es kaum Straßen, nur Treppen. Man wohnte dicht an dicht über den Zisternen, die vor Tausenden Jahren angelegt wurden. Das Leben fand draußen auf den kleinen Vorplätzen statt. Ich mochte diesen alten Lebensstil, Matera war ein magischer Ort mit endlosen Möglichkeiten“, erzählt Vincenzo. Fünf Ferienwohnungen hat sein B & B, teils in den Tuff geschlagen. Vincenzo erzählt: „Seit ein Gesetz die Menschen in den 80er Jahren in die Sassi zurückholte, erwachten die Höhlen erneut zum Leben. Viele Hotels, Restaurants und Handwerksbetriebe haben aufgemacht. 1993 erhielten die Sassi den Titel Unesco-Weltkulturerbe.“

Ein Phoenix aus der Asche also? Der Aufstieg Materas ist auch dem Kino zu verdanken, welches Matera noch vor den Hoteliers entdeckte. Als einer der ersten verfilmte Regisseur Pier Paolo Pasolini 1964 das „Matthäus-Evangelium“ in Matera, viele italienische Altmeister wie Franco Zeffirelli oder Francesco Rosi folgten, drehten Bibel-, Krippen- oder sonst wie im Himmel verortete Filme und festigten den Ruf der Stadt als „zweites Bethlehem“. Rund 50 Produktionen sind es bis heute – einschließlich Hollywood. Die Folgen? Der „Cineturismo“, Filmset-Tourismus also, ließ die Besucherzahlen sprunghaft steigen: „Wurden bis 2004 rund 10 000 Touristen pro Jahr gezählt, waren es 2017 rund 400 000 Besucher“, sagt Dora Cappiello, die geführte Touren durch die Altstadt anbietet.

Touristen wollen in den Höhlen schlafen

So manche Familie hat es von Höhlenbewohnern zu Luxushoteliers oder Restaurantbesitzern gebracht, in mancher der rund 80 Felsenkirchen stehen heute Frühstückbüfetts. „Für uns Einheimische ist es komisch, dass Touristen heute viel Geld für das Schlafen in einer Höhle zahlen. Dafür wurden wir einst von ganz Italien verlacht”, sagt Dora Cappiello. Die Reichen lebten damals in der Oberstadt, die Armen unten in den Höhlen. Dann verkehrte sich die Welt: Eines dieser überzeugend schlicht gestalteten Domizile ist das „Corte San Pietro“ von Hotelbesitzer Fernando Ponte. Mit Enthusiasmus führt der nette Herr Ponte seine Gäste durch die hellen Räume und unterirdischen Gänge, die er als Spas und Meditationsräume nutzen will. In einem der Zimmer zeigt er auf ein Kunstobjekt, eine hohe Stele aus Holz. „Nein, das ist kein Teil des Jesus-Kreuzes aus dem Gibson-Film, aber immerhin eine Requisite davon“, sagt er stolz.