Nach Motiven Edward Hoppers gestaltet ist das Tanzstück „Gesichter der Großstadt“ (Szene mit Maya Mayzel und Yoh Ebihara). Foto: Klenk

Mehr Spitzentanz? Nicht mit Reiner Feistel. Der Choreograf ließ Chemnitz und den Wunsch nach mehr Klassik hinter sich. Nun hat er in Ulm mit einer komplett neuen Kompanie die Arbeit als Ballettchef aufgenommen – und will der Stadt ins Gesicht schauen.

Ulm - Baustellen rund ums Haus – und auch im Ulmer Theater ist vieles neu, zumindest auf Leitungsebene: Der Intendant Kay Metzger startet mit neuem Team, Japser Brandis übernimmt das Schauspiel, Reiner Feistel die Tanzsparte.

Vor allem im Tanz bedeutet der Wechsel einen ziemlichen Einschnitt. Feistels Vorgänger Roberto Scafati, der in Ulm für viel Begeisterung gesorgt hatte, folgte mit seinen Tänzern dem Ruf des ehemaligen Stuttgarter Schauspielbühnenchefs Manfred Langner, der ihn beim Start in Trier dabeihaben wollte. So kam es, dass in Ulm am 28. August eine komplett neue Tanzkompanie die Arbeit aufgenommen hat.

Wer die Tänzer derzeit bei ihrem Ulmer Debüt erlebt, ahnt kaum, dass da eine spontan zusammengefundene Truppe sich in kurzer Zeit zwei anspruchsvolle Tanzstücke erarbeitet hat. Feistels fließenden Stil, der beim Ballett Eleganz und Virtuosität borgt, diese aber mit moderner Lockerheit angeht, haben die zehn Akteure verinnerlicht.

Erzählen von und über Menschen

Und so sieht man fast schon die Vision tanzen, die Feistel für seine Ulmer Kompanie im Gespräch nach einer Vorstellung formuliert: „Sie soll authentisch und frei von Allüren rüberkommen und voller Energie neue Stoffe entdecken. Sie soll auf alle Fälle einen erzählerischen Duktus haben, um etwas über und von Menschen zu erzählen. Und sie soll ein lebendiger Teil der Stadt sein.“

Wie das aussehen kann, zeigt Feistels erste Uraufführung, an deren Ende zwei junge Ulmer Breakdancer für Partystimmung sorgen, wenn sie den Kreislauf von Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ aufbrechen und nach vorn blicken. Als Verbeugung vor der neuen Heimat darf man das Stück verstehen, das über Hintergrundprojektionen vom Aufbrechen und Ankommen erzählt, das seine Tänzer wie Touristen die Sehenswürdigkeiten von Ulm erkunden lässt. Eine positive Neugier spricht aus dieser Produktion, die Feistel den Ulmern wie eine ausgestreckte Hand entgegenhält.

Feistels Herz hängt am Zeitgenössischen

Ganz anders die Stimmung im Stück „Gesichter der Großstadt“, das den Abend eröffnet und ihm den Titel gibt. Für seine Hommage an die Welt von Edward Hopper, die das Bühnenbild mit wenigen Elementen Form annehmen lässt, hat Feistel die Melancholie von Gemälden wie „Nighthawks“, „Automat“ und „Summer Evening“ auf getanzte Begegnungen übertragen. Erarbeitet hatte er die Produktion in Chemnitz. Dass sie 2017 den sächsischen Tanzpreis erhielt, hat den Chemnitzer Generalintendanten Christoph Dittrich allerdings nicht davon abgehalten, Feistel mit der Spielzeit 2017/18 vom Ballettchef zum Haus-Choreografen zu degradieren und die künstlerische Leitung der Sparte deren bisheriger Betriebsdirektorin zu verantworten, die mehr Vielfalt garantieren soll.

Weil er gestalten und nicht zuschauen will, bewarb sich Feistel in Ulm. Und man ahnt, dass er angesichts der aktuellen Situation in Chemnitz nicht undankbar ist über die Chance auf einen Neuanfang. „Die künstlerische Ausrichtung in Chemnitz soll stärker zum klassischen Stil gehen und mehr Tanz auf Spitzenschuh bieten“, sagt Feistel. Und auch wenn der 1958 in Thüringen geborene Choreograf nach seiner Ausbildung an der Leipziger Ballettschule als Solist an der Dresdner Semperoper getanzt hat, hängt sein Herz mehr am Zeitgenössischen – und schlägt nun an der Donau.

Brückenbauen in die Stadt hinein

Während Feistel im Ulmer Probenraum mit neuem Team in hohem Tempo in Richtung erster Premiere unterwegs war, herrschte in Chemnitz Ausnahmezustand. Wie hätte er als Künstler vor Ort auf Hass und Gewalt reagiert? „Ich scheue es nicht, klare Aussagen zu machen, und hätte mich deutlich positioniert“, sagt Feistel und fügt hinzu: „Ich bin von diesem gesellschaftlichen Prozess des Spaltens überrascht, weil er in der Kunst keine Rolle spielt. Am Theater leben wir das Miteinander tagtäglich, wir sind in dieser Kompanie sieben Nationen, verbunden durch eine gemeinsame Idee – den Tanz.“

Konsensfähig ist Feistels Tanzsprache allemal. Widerborstiger, weniger gefällig hätte man sich beim Blick in die Gesichter einer Großstadt manches gewünscht, vor allem die Musikauswahl: Michael Nymans Klavierkitsch klebt wie Zuckerguss über den Szenen, die mit Jazzklängen möglicherweise eindringlicher zum Publikum sprechen könnten. Und auch die Bearbeitung von Max Richter, der Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ mit modernem Instrumentarium glatt bürstet, klingt nicht nach dem Aufbruch, von dem der Tanz erzählt.

Mehr Mut wünscht man Feistel, der beim Brückenbauen vielleicht auch auf die Musikszene der Donaustadt stößt. „Ich möchte unbedingt, dass wir uns mit unserer Arbeit nicht im Theater verkriechen, sondern rausgehen, Plätze betanzen, Ulm entdecken“, sagt Feistel. Mit den nächsten Premieren will der Mann, den der Tanz jung gehalten hat, bewusst ein junges Publikum ansprechen: „Der kleine Prinz“ und „Das kalte Herz“ hat er sich vorgenommen.