Hans Steisslinger um 1940, gemalt von seinem Vater Fritz. Das Bild befindet sich in Privatbesitz. Foto: Stadtmuseum Sindelfingen

Monatlich dreht das Stadtmuseum und das Stadtarchiv die Zeit in Sindelfingen die Zeit um 80 Jahre zurück. Diesmal erzählt ein Abiturient des Goldberggymnasiums, das 1942 Adolf-Hitler-Schule hieß, von seinen Erfahrungen im Russlandfeldzug.

Das Stadtmuseum Sindelfingen befasst sich von September 2019 bis Mai 2025 unter dem Titel „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs von 1939 bis 1945 und wie sich damals die Situation für die Menschen vor Ort darstellte. Jeden Monat wird ein anderes Thema in den Blick genommen. Das Thema im Monat Oktober lautet: „Und wir sind doch noch so jung“. Es geht um den Russlandfeldzug vom Oktober 1942.

Der Abiturjahrgang 1940 der damaligen Adolf-Hitler-Schule in Sindelfingen, die heute Goldberg-Gymnasium heißt, hat der Nachwelt ein wertvolles schriftliches Zeugnis hinterlassen. In Form eines sogenannten Rundbuchs trugen die ehemaligen Schülerinnen und Schüler ihre Erlebnisse nach dem Abitur ein. Neben dem Rundbuch gibt es weitere schriftliche Quellen. Von Hans Steisslinger (1922-1947), dem Sohn des bekannten Malers Fritz Steisslinger aus Böblingen, sind Tagebücher und Briefe erhalten, die sich im Besitz der Familie befinden.

Hans Steisslinger erlebte schon früh in seinem Soldatenleben Gewalt und Tod. Die Tagebucheintragungen im Oktober 1942 zeigen einen desillusionierten jungen Mann. Er versah seinen Dienst mit Überzeugung und blickte dennoch kritisch auf Ereignisse und Situationen, mit denen er konfrontiert war.

„Wir sind doch noch so jung“

„Es hängen schwarze Wolken über dem deutschen Heer. Wolken! O, wie lang ich schon vorher ihr Nahen drückend gespürt habe! Uns geht die Luft knapp, sehr knapp. Keine Leute mehr. Was sich im letzten Monat mit unserer Division so furchtbar vollzogen hat, ging während des vergangenen Jahres wohl mit der ganzen Armee vor sich. Nun stehen die Heere und hecheln . . . Und dann: Der Krieg in Russland muss nächstes Jahr ein Ende finden! So sagt der Führer . . . Und ich gehe meine Pflicht zu tun. Es ist oft so, als sei ich beladen mit einer ungeheuren Last an Sorgen, während die meisten noch gleichmütig ihren Trott gehen. Und ich musste für sie mitsorgen und alles selber abmachen, weil ich Offizier bin, zäh sein muss, trotz allem, und arbeiten und schweigen . . . Es ruht viel auf unseren Schultern. Und wir sind doch noch so jung. Vor dem Gesetz nicht einmal mündig! 20 Jahre.“ (Tagebuch 19. 10. 1942, Peri)

Zehn Tage später, es ist der 29. Oktober 1942, schreibt er an seinen zwei Jahre jüngeren Bruder Eberhard, der 1945 starb: „ . . . der Anblick riesenhaft anwachsender Totenfelder, Kreuze, Namen, Hügel! Viele Kameraden liegen da, die noch vor Tagen mit mir lachten. Und einer war dabei, der seit einem Jahr fast jeden Tag mit mir geteilt hat . . . nun hab’ ich ihn liegen lassen und geh’ allein weiter. Nicht ärmer oder trauriger. Nur die Augen etwas mehr zusammengekniffen und den Mund schmaler. So ist das bei uns! Hat seine Richtigkeit. Wenn uns mal so ein unvernünftiges Ding erwischt, vielleicht gleich heute Nacht, wollen wir die Letzten sein, die sich beklagen. Wir haben vom Leben noch nichts gehabt. O ja, wohl mehr als andere. Denn wir haben so viele Hüllen fallen sehen, so viel Nacktheit, Feigheit, Hässlichkeit. Aber alles im Feuer der Front . . . Wir schlafen nachts nicht mehr, sondern lauern zum Feind hin.“

Die Realität hatte nichts mit der Propaganda zu tun

Im Tagebucheintrag vom 31. Oktober 1942 beschreibt sich Hans Steisslinger selbst: „Bewaffnet bis an die Zähne: Pistole am Koppel, Pistole in der Tasche, Handgranate in der Tasche, grüne und weiße Leuchtkugeln, Lichtpistole in Koppel gesteckt, Fernglas an der Brust und Taschenlampe. Und unter allem krabbeln und beißen die Läuse . . . Großvater hat mal wieder einen Brief geschrieben, von Heldentum und Deutschlands Aufstieg und lauter schönen Sachen. Wenn er wüsste, wie sich das im Bunker anhört und in so einer Nacht über Russland . .   Dein Enkel ist älter als du!“

Die Texte von Hans Steisslinger offenbaren die Realität des Krieges und die Hoffnungslosigkeit des jungen Mannes, der wohl bereits erkannte, dass der Krieg in Russland nicht gewonnen werden konnte. Hans Steisslinger starb 1947 an den Folgen einer im Krieg erlittenen Verwundung.

Die zugehörige Vitrine im Sindelfinger Stadtmuseum ist seit dem 25. Oktober dem Publikum zugänglich.