Die Mejia Valencias in ihrer Wohnung in Stuttgart-West. Foto: privat

Wie kommen Ausländer in der Region Stuttgart klar? In unserer Serie stellen wir Familien vor, die in zwei Kulturen zu Hause sind. Heute: die Mejia Valencias aus Ecuador.

Stuttgart - Es ist ein hartes Wort, das Arabel Mejia Valencia benutzt, wenn sie über ihre ersten Jahre in Süddeutschland spricht. „Sufría“, sagt sie. „Ich habe gelitten.“ Gelitten hat die 42-Jährige unter der Kälte und der Dunkelheit des deutschen Winters. „Das war ein Schock“, sagt Arabel. In ihrer Heimat Ecuador geht die Sonne das gesamte Jahr über gegen 18 Uhr unter und gegen sechs wieder auf. Als sie in Deutschland ankam, besaß sie keine warme Kleidung. „Die Tage waren für mich oft um 14 Uhr zu Ende, weil ich so sehr gefroren habe.“ Dann hat Arabel ihren Pyjama angezogen und ist zu Hause geblieben. Verstanden hat sie draußen sowieso niemanden.

Gelitten hat Arabel Mejia Valencia auch, erzählt sie, als sie das erste Mal mit der deutschen Mülltrennung konfrontiert war. „Wo muss was rein?“ Die Erinnerung lässt sie die Hände vor dem Gesicht zusammenschlagen. In Ecuador landet alles in einem Sack. Inzwischen ist sie Anhängerin der Mülltrennung, die ecuadorianische Praxis findet sie „traurig“.

An diesem Tag sitzt Arabel Mejia Valencia an dem schlichten hölzernen Esstisch ihrer Wohnung im Stuttgarter Westen und kann über all das lachen, was ihr am Anfang zu schaffen gemacht hat. Sie hatte inzwischen genug Zeit, sich an ihr neues Leben zu gewöhnen.

2011 kam zunächst ihr Mann Christian nach Deutschland, um Musikkomposition für das Kino zu studieren. Ein Bekannter hatte ihm erzählt, die Freiburger Hochschule für Musik sei dafür eine sehr gute Adresse. „Es war ein riskantes Abenteuer“, sagt seine Frau Arabel rückblickend. Dennoch kam sie 2012 mit ihren beiden Töchtern Martina und Ariana hinterher.

Ein Auto brauchen sie in Stuttgart nicht

In Ecuador lebte die Familie in der Hauptstadt Quito (sprich: Kito) auf 2850 Metern über dem Meeresspiegel. Die Stadt befindet sich in einem Tal der Anden, umgeben von erloschenen und aktiven Vulkanen. Ecuador selbst liegt am Pazifik zwischen Peru und Kolumbien und ist fast so groß wie Deutschland. Auf dem südamerikanischen Kontinent gehört es flächenmäßig zu den kleinsten Ländern.

„Am Ende lassen einen die neuen Erfahrungen persönlich wachsen“, sagt Arabel Mejia Valencia. Wenn sie heute zum Metzger um die Ecke geht und ihn wegen seines breiten schwäbischen Dialekts mal wieder nicht versteht, dann lächelt sie einfach höflich – und verkriecht sich nicht mehr vor lauter Frust in der Wohnung. Und wenn sich die Stuttgarter über die schlechte Luft beklagen, sagt sie bloß: „In Quito haben wir das ganze Jahr mit Feinstaubalarm gelebt.“ In der Millionenstadt lerne man auch, was ein Dauerstau sei: „Weil der öffentliche Nahverkehr so schlecht ist, kommt man nicht drum herum, Auto zu fahren.“

Die Mejia Valencias haben sich in Deutschland eingelebt. Seit Christian einen Job als Dozent an der Musikhochschule Deutsche Pop in Kornwestheim gefunden hat, wohnen sie in Stuttgart. Ihr Auto haben sie verkauft und das Geld in ihre Eigentumswohnung in der Forststraße gesteckt, „weil wir hierbleiben wollen“, wie der 44-jährige Christian sagt: „Mindestens bis unsere Töchter Schule und Studium abgeschlossen haben.“ Derzeit besuchen die beiden Mädchen das Hölderlin-Gymnasium.

Arabel Mejia Valencia arbeitet als freischaffende Modedesignerin. In der Wohnung stehen in einem Regal neben dem Esstisch drei Nähmaschinen und eine Schneiderpuppe, die einen Mantel aus grober Wolle trägt. „Die vier Jahreszeiten in Europa inspirieren mich für meine Entwürfe, weil sich die Kleidung immer wieder verändert“, sagt Arabel. Zurzeit arbeitet sie an einer Unterwäschekollektion für lesbische Frauen.

Ein Sprachensalat aus Deutsch, Spanisch und Englisch

Die Töchter Martina und Ariana sind in Quito auf die Welt gekommen und haben dort ihre Kindheit verbracht. Martina war zwölf, Ariana elf, als sie mit ihrer Mutter Arabel nach Deutschland gingen. In Quito hatten sie eine deutsche Schule besucht, dennoch fiel es ihnen anfangs schwer, Deutsch zu sprechen – und Schwäbisch klang in ihren Ohren wie eine weitere Fremdsprache. Inzwischen sind die beiden Teenager von Wörtern wie „weischd“ und „gschwind“ fasziniert. „Ich arbeite als Aushilfe in einem Supermarkt, manchmal ist es mit dem starken Dialekt immer noch kompliziert“, erzählt Ariana. Viele Kunden machten sich keine Mühe, Hochdeutsch mit ihr zu sprechen. Untereinander benutzen die Schwestern einen Sprachensalat aus Deutsch, Spanisch und Englisch.

Ihr Vater Christian fühlt sich in Stuttgart deutlich wohler als in Quito. Denkt er an seine alte Heimat zurück, fällt ihm kaum Positives ein. Oberflächlich seien viele Menschen dort und das alltägliche Leben unkalkulierbar. „Du weißt nie, was morgen passiert.“ Eine finanzielle Absicherung wie sie für ihn die Künstlersozialkasse biete, sei in Ecuador undenkbar. Und wirtschaftlich komme das Land nicht vom Fleck. Das alles nährte in ihm den Wunsch, fortzugehen und das Glück in Deutschland zu suchen. „Hier können wir ein ruhiges Leben führen und unsere Zukunft planen“, sagt er.

Arabel Mejia Valencia ist diejenige in der Familie, die am meisten an Ecuador hängt. Ihr südamerikanisches Heimatland bedeutet für sie „Wärme, Geborgenheit, herzliche Menschen, Familie“. In Quito hätten sich Verwandte und Bekannte ständig gegenseitig besucht. Nun telefoniert sie täglich mit der Familie und schaut ecuadorianische Nachrichten. Eine der Traditionen, die Arabel in Stuttgart fortführt, ist das Backen von Pan de Yuca, einem Brot aus der Maniokwurzel. Regelmäßig trifft sie sich dafür mit Freundinnen. Neben ihrer Arbeit als Modedesignerin gibt sie mehrmals die Woche Zumba-Kurse, ein auf lateinamerikanischen Tänzen basierendes Fitnessprogramm: „Die sind natürlich auch stark ecuadorianisch angehaucht.“

Das Auswärtige Amt warnt

Die Töchter Ariana und Martina balancieren irgendwo zwischen den beiden Kulturen. Einerseits hängen sie an ihrer Familie, fliegen mindestens zweimal im Jahr nach Quito. Andererseits schätzen sie, dass sie in Stuttgart als junge Frauen alleine auf den Straßen unterwegs sein können. In Ecuador wäre das wegen der hohen Kriminalität nicht möglich. Das Auswärtige Amt warnt: „In größeren Städten wie Quito kommt es in erheblichem und weiter steigendem Umfang zu Raubüberfällen. Von Gegenwehr ist aufgrund der Gewaltbereitschaft der Täter in jedem Fall abzuraten.“

Verlassen Menschen ihre Heimat, neigen sie oft dazu, ihre Herkunft in der neuen Umgebung besonders zu betonen. Familie Mejia Valencia gehört nicht dazu. Ihre Wohnung ist schlicht und modern eingerichtet. Auf buntes ecuadorianisches Kunsthandwerk habe er bewusst verzichtet, erzählt Christian, und seine Frau Arabel sagt: „Wir sehen uns als Weltbürger.“ Neben ihren Nähmaschinen steht sein Klavier, an dem er komponiert. Nichts deutet darauf hin, dass hier eine Familie aus einem viele Tausend Kilometer entfernten Land lebt.

In Stuttgart gehen die Mejia Valencias regelmäßig ins Ballett, ins Theater oder in die Oper. „In dieser Qualität gibt es Hochkultur in Ecuador nicht“, sagt Christian. Zuletzt war die Familie in „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss. „Das hat uns super gefallen, weil die Inszenierung modern, aber nicht verrückt war. Musik, Gesang, Bühnenbild – es war perfekt!“

Gleichwohl hat die Konfrontation mit der deutschen Kultur zumindest ein wenig dazu beigetragen, dass die Familie ihre lateinamerikanischen Wurzeln wiederentdeckt. Arabel, Ariana und Martina besuchen seit einiger Zeit in Stuttgart Folkloreabende: Sie kleiden sich im traditionellen Gewand der indigenen Ecuadorianer und führen mit Landsleuten Volkstänze auf. „Das hätten wir in Quito nicht gemacht“, sagt Arabel Mejia Valencia und lacht.

Bier, Bratkartoffeln und Brot

Und ihr Mann genießt es inzwischen, ecuadorianisch zu kochen. Spricht er beispielsweise über Mote, eine Maisart mit besonders großen Körnern, leuchten seine Augen wie die eines Schwaben, der über Linsen mit Spätzle philosophiert. Und dann sind da noch die Chifles, Christians Leibspeise: dünne, frittierte und gesalzene Scheiben aus Kochbanen, die es in Quito an jeder Ecke für wenig Geld zu kaufen gibt. Weil Kochbananen in Stuttgart manchmal schwer zu kriegen sind, bringt Señor Mejia Valencia fertige Chifles mit, wenn er in ihrer alten Heimat zu Besuch war.

Die Señoras Arabel, Martina und Ariana mögen hingegen kalorienreiche deutsche Kost: Im Hause Mejia Valencia werden auch Currywurst und Bratkartoffeln serviert. Und auf dem kleinen Balkon steht ein Kasten natürlich gekühltes Wulle-Bier. Richtig ins Schwärmen kommen die drei Frauen, wenn sie bei einem schwäbischen Bäcker einkaufen. „Diese Güte kannten wir aus Ecuador nicht“, erzählt Arabel. Ein Butterbrot zu schmieren sei in Quito fast unmöglich, „weil es unter dem Messer meist sofort zerbröselt“.

Könnten sie sich vorstellen, eines Tages zurückzukehren? Christian lacht und zeigt auf seine Frau: „Sie schon!“ Arabel nickt – „ein wärmerer Ort wäre schön“. Eines habe der überstandene Kulturschock bei ihr bewirkt: „Ich habe keine Angst mehr vor Veränderung.“