Milind Patwardhan, seine Frau Jai Kale und Sawani bei Musik und Tanz Foto: factum/Granville

Wie kommen Ausländer in der Region Stuttgart klar? Eine Serie über Familien, die in zwei Kulturen zu Hause sind. Heute: die Patwardhans aus Indien

Sindelfingen - Man muss schon sehr genau hinschauen, um in der Sindelfinger Wohnung der Familie Patwardhan/Kale ein Stück Indien zu finden. Ein schwarzes Ledersofa und ein Glastisch im Wohnzimmer, an der Wand das gerahmte Foto eines von Wellen umtosten Leuchtturms, der vermutlich irgendwo in der Nordsee steht. Hier könnte auch eine deutsche Familie leben. Doch es ist die Wohnung der indischen Familie Patwardhan/Kale: Milind, 43 Jahre, seine sechs Jahre jüngere Frau Jai Kale und die zwölfjährige Tochter Sawani.

Lediglich ein kleiner Schrein in Kopfhöhe, den ein Bild des indischen Gottes Ganesha schmückt, weist auf die Herkunft der Familie aus der westindischen Stadt Pune hin. Zu Füßen des Gottes mit dem Elefantenkopf befinden sich winzige Schatullen mit farbigen Gewürzen. „Damit tragen die Frauen das Bindi, den roten oder gelben Stirnpunkt, auf“, erklärt Milind Patwardhan.

Das Bindi ist der traditionelle Schmuck verheirateter indischer Frauen. Jai Kale jedoch malt ihn nur noch bei besonderen Gelegenheiten auf: bei indischen Festen etwa. Dann legt sie sich einen festlichen Sari um und tupft sich einen farbigen Punkt zwischen die Augenbrauen. Im Alltag hingegen zieht die Elektronik-Ingenieurin den Business-Look vor. „Dazu passt das traditionelle Bindi nicht.“

Chance für das Abenteuer Europa

Vor 14 Jahren kam Jai Kale nach Sindelfingen, eigentlich nur für neun Monate. Ihr Mann lebte damals bereits seit zwei Jahren in der Stadt – mit befristeten Jobs als Maschinenbau-Ingenieur in der Autobauer-Branche. Nach der Hochzeit freute sich Jai Kale darauf, ihren Mann für ein letztes berufliches Projekt nach Deutschland zu begleiten. Eine Chance für die abenteuerlustige Frau, Europa zu erkunden. „Ich habe mich bei meiner Arbeitsstelle in Pune beurlauben lassen. Ich war mir sicher, dass ich nach neun Monaten zurückkehren würde.“

Als Jai Kale in Sindelfingen ankommt, ist es Frühling. „Es war warm, die Sonne schien, alles blühte in den schönsten Farben“, erinnert sie sich. Sie ist sofort angetan vom Leben in der schwäbischen Kleinstadt. Ein harter Kontrast zu ihrer Heimatstadt Pune mit mehr als drei Millionen Einwohnern.

Irritiert jedoch ist sie stets an den Sonntagen. „Da sind in Deutschland die Straßen leer, und alle Geschäfte haben zu.“ Das kennt sie so nicht. In Indien gehen am Sonntag alle shoppen. „Wie bei einer Ausgangssperre“ fühlt sich die junge Inderin anfangs an den Wochenenden. Doch nun, 14 Jahre später, sieht Jai Kale das etwas anders. „Mittlerweile genieße ich die sonntägliche Ruhe.“

Obwohl sie ja nur kurz bleiben möchte, macht sich Jai Kale sogleich daran, Deutsch zu lernen. „Das ist wichtig, wenn ich die Kultur verstehen möchte.“ Als der Arbeitsvertrag ihres Mannes verlängert wird, begibt auch sie sich auf Jobsuche. „Ich bin es aus Indien gewohnt, einfach mit meinen Bewerbungsunterlagen in eine Firma zu marschieren. Ich musste lernen, dass das hier nicht geht.“ Als die Jobsuche sich als schwieriger als gedacht erweist, beschließt das Ehepaar, in die Familiengründung zu gehen. Im Juli 2005 wird Tochter Sawani geboren. „Mit ihr hat sich mein ganzes Leben verändert“, sagt die Mutter.


Sawani ist der Schlüssel zum Eintritt in die deutsche Gesellschaft. Jai Kale hält sich an die Empfehlung ihrer Krankenkasse und macht das ganze deutsche Mutter-werden-Programm mit: Geburtsvorbereitung, Rückbildungskurs, Krabbelgruppe. „So fand ich deutsche Freundinnen.“ Sie helfen ihr auch bei der Bewerbung für den Berufseinstieg. Als Sawani zwei Jahre alt ist, startet ihre Mutter in den deutschen Berufsalltag, gleich in Vollzeit.

Die Familie lebt ein Leben wie ihre deutschen Nachbarn: Arbeit, Kita, Ausflüge am Wochenende. Noch immer steht fest, dass dies ein Leben auf Zeit ist: Noch bevor Sawani in die Schule kommt, will die Familie zurück nach Indien. Aber die Zeit vergeht schneller als gedacht. Sawani wird in Sindelfingen eingeschult. „Da wussten wir: Das ist kein Provisorium mehr“, sagt Jai Kale. Milind Patwardhan wechselt von den befristeten Projektverträgen in ein festes Arbeitsverhältnis. Auch seine Frau macht Karriere. Bis vor wenigen Monaten arbeitete sie Vollzeit. „Jetzt habe ich reduziert, um Sawani in der Schule zu unterstützen.“ In der Grundschule sei für ihre Tochter „alles ein Spiel“ gewesen: „Aber jetzt im Gymnasium, das strengt sie an.“

Ja, räumt die Mutter ein, es sei typisch für indische Familien, dass ihnen der Schulerfolg und die Bildung ihrer Kinder besonders wichtig seien. Sawani besucht die siebte Klasse des Königin-Olga-Stifts in Stuttgart. „Wegen des bilingualen Zugs“, erklärt die Mutter. Einige Fächer werden in Englisch unterrichtet, eine Sprache, die Sawani geläufig ist. Denn das Mädchen wächst dreisprachig auf: mit Deutsch, Englisch und Marathi, der Muttersprache ihrer Eltern. Was Sawani allerdings ärgert: „Ich kann Marathi nur sprechen, nicht lesen und schreiben.“ Wie eine Analphabetin fühlt sie sich bei den Urlauben in Indien.

Auftritte bei Festivals

Auch deshalb kann sich die Zwölfjährige nicht vorstellen, jemals für längere Zeit in dem Herkunftsland ihrer Eltern zu leben. „Die Straßen sind voll und laut und chaotisch, und es ist sehr heiß.“ Vier Wochen im Sommer bei den Großeltern, das sei schön. „Aber ich freue mich dann immer wieder auf zu Hause.“

Indien ist im Sindelfinger Familienalltag sehr präsent – nicht nur beim Essen. Seit drei Jahren lernt Sawani den klassischen indischen Tanz bei einer Privatlehrerin. Und ihre Eltern machen gemeinsam Musik. Jai Kale hat als Jugendliche eine Ausbildung in klassischem indischem Gesang erhalten. Immer wieder tritt die Familie bei indischen Festivals in der Region auf.

Ihre musikalischen Talente haben Jai Kale und ihre Tochter auch in die Sindelfinger Kulturszene befördert. Beim Stadtmusical „Sirenen der Heimat“ 2013 zum 750-Jahr-Jubiläum Sindelfingens stand die Mutter als Solosängerin auf der Bühne der Stadthalle. Sawani war ein Mitglied der Kindergruppe des Musicals.

Dieses Engagement, dem weitere kulturelle Beiträge folgten, hat die Familie noch fester in ihrer Wahlheimat verankert. „So habe ich die Sindelfinger Martinskirche kennengelernt. Das ist ein ganz besonderer Ort für mich“, sagt Jai Kale, obwohl sie keinerlei Bezug zum Christentum hat. Die Patwardhans sind Hindus, begehen die hinduistischen Feiertage. Der wichtigste sei Diwali – das Festival der Lichter, sagt Milind Patwardhan. Es wird zu Ehren von Lakshmi, der Göttin des Wohlstands, gefeiert. „Dafür mieten wir Inder aus der Region eine Halle in Böblingen und feiern zusammen.“


Das zweite wichtige religiöse Fest zu Ehren des Gottes Ganesha konnte die Familie dieses Jahr im August in Indien zelebrieren – zusammen mit der Großfamilie. Nicht einfach sei es für ihre Eltern, dass sie so weit weg in Deutschland lebe, sagt Jai Kale. Zumal Sawani ihr einziges Enkelkind sei. Die Großeltern väterlicherseits haben neben Sawani eine weitere Enkelin, sie lebt in den USA. „Das ist heute normal für indische Familien“, sagt Jai Kale. Gelegentlich kommt die indische Verwandtschaft zu Besuch nach Deutschland. Dann zeigt man ihr alles, was für Inder exotisch ist: Paris, den Schwarzwald – und auch Schnee. „Meine Mutter hat hier zum ersten Mal in ihrem Leben Schnee gesehen“, berichtet Jai Kale.

Sie merkt bei jedem Besuch in ihrer Heimat, wie deutsch sie geworden ist. „Ich ärgere mich, wenn meine Freunde eine halbe oder Dreiviertelstunde später als vereinbart zu einer Verabredung kommen. In Indien ist das normal, für mich aber nicht mehr.“ Ihr Mann hat damit weniger Schwierigkeiten. „Ich bin sehr anpassungsfähig. Wenn ich in Deutschland bin, bin ich pünktlich. In Indien ist mir das nicht so wichtig.“

Mit einer deutschen, nein schwäbischen Tradition jedoch kann sich Jai Kale nicht anfreunden: der Kehrwoche. „Bis heute verstehe ich nicht, warum das so wichtig ist.“ Das Putzen an sich sei kein Problem. „Aber immer daran zu denken, das fällt mir auch nach 14 Jahren noch schwer.“ Trotz so mancher kultureller Holprigkeiten wollen die Patwardhans im Schwabenland bleiben. „Mindestens so lange, bis Sawani mit der Schule fertig ist“, sagt der Vater. „Dann gehen meine Frau und ich vielleicht wieder zurück nach Indien.“ Schon wegen der älter werdenden Eltern, um die sie sich dann kümmern müssten.

Indien ist Sawanis Urlaubsland

Und Sawani? Für sie ist Indien ein Urlaubsland, in dem die geliebten Großeltern leben. Mehr nicht. Ihre Freundinnen hat sie in Sindelfingen und Stuttgart. Was sie einmal werden will, weiß sie noch nicht. Wohl aber, wo sie studieren wird: in Deutschland. Für die Eltern wäre es kein Problem, wenn sie allein hier bliebe. Auch nicht, wenn sie einen Mann heiraten würde, der nicht aus Indien stammt, sagen sie.

„Sindelfingen isch mei Heimat“: Dieser Slogan des Sindelfinger Stadtjubiläums von vor vier Jahren – er gilt auch für Sawani. Das Mädchen wurde vor zwölf Jahren als eines der letzten Kinder vor der Schließung der Geburtenstation im Sindelfinger Krankenhaus geboren. An einem anderen Ort hat sie nie gelebt. Eine andere Heimat kennt sie nicht.