Wie kommen Ausländer in der Region Stuttgart klar? Eine Serie über Familien, die in zwei Kulturen zu Hause sind. Heute: die Emilssons aus Island.

Aspach - In Island gibt es wundersame Geschöpfe. Damit sind nicht unbedingt die 340 000 Einwohner gemeint. Auch nicht die Klappmützenrobben mit ihrer dicken Nasengeschwulst, die immer leicht bedröppelt dreinblickenden Papageitaucher, die Trottellummen, die sich im Alter von drei Wochen todesmutig von ihren Brutklippen stürzen, oder die Thorshühnchen – arktische Schnepfenvögel, bei denen das Weibchen um den Burschen balzt.

Auf der größten Vulkaninsel der Welt, wo die Erde Feuer spuckt und Schwefel schwitzt, wo Lava- und Gletscherwüsten nichts von Fauna oder Flora wissen wollen, wo Wolkenteppiche sich so tief übers Land wälzen, dass einem der Himmel auf den Kopf zu fallen droht, lebt das Huldúfolk: Trolle, Feen, Kobolde und andere für Normalsterbliche unsichtbare Nachtgestalten. Sie zu stören bringt Unglück. Im Bauamt Reykjavíks gibt es deshalb Karten, auf denen vorsichtshalber alle elfenverdächtigen Stellen markiert sind. In dem Ort Grundarfjörður mit seinen 900 Einwohnern blieb zwischen zwei Häusern ein von Fantasiewesen bewohnter Fels stehen und bekam sogar eine eigene Hausnummer. Man spricht von sehr ruhigen Nachbarn. In Kópavogur, Vorort von Reykjavík und Heimat von Auður Lena Knútsdóttir, macht eine ansonsten schnurgerade verlaufende Straße urplötzlich einen weiten Bogen um einen Hügel. Eine Seherin hatte erkannt, dass in dem Buckel eine Elfenfamilie wohnt. Es ist besser, sich nicht mit dem Huldúfolk anzulegen – und schon gar nicht mit Seherinnen.

Auður Lena Knútsdóttir, 52, glaubt an Elfenwesen. Wie die meisten ihrer Landsleute ist sie evangelisch, hängt aber auch an den nordischen Mythen und Naturgeistern. Ihr Mann Rúnar Emilsson, 55, sieht es nüchterner: „Wenn man in einer so isolierten Gegend unzählige dunkle Winter lang zusammensitzt und sich Geschichten erzählt, gewinnen sie immer mehr an Zauberkraft. Irgendwann gehören sie zum Leben.“ Auch er kann sich nicht entziehen: Er weiß noch, wie er allein über eine gottverlassene Hochlandpiste wanderte und sich bald beobachtet glaubte. „Ich redete mir ein, es sei nur Einbildung. Aber es war nicht wegzuleugnen. Ein durchdringendes Gefühl.“

Deutsch als zweite Fremdsprache

Vor 30 Jahren zog Rúnar in den 16 000-Seelen-Ort Trossingen (der in seiner Heimat die fünftgrößte Stadt wäre), um wie schon sein Vater im Schwarzwald Musik zu studieren. „Ich wurde gut aufgenommen“, sagt er. Er fand Anschluss im Musikverein, „da ging es gemütlich zu“. Die Integration lief dann wie geschmiert.

Er las die Zeitungsannonce eines Optikers, der einen Lehrling suchte. Rúnar ging in den Laden, zeigte ein Foto von Auður und fragte den Mann, ob er sich vorstellen könnte, sie einzustellen. So kam sie zu ihrem Job. Deutsch hatte sie in der Schule als zweite Fremdsprache gewählt. Doch Trossingen stellte noch einmal verschärfte Anforderungen: „Mein erster Kunde kam rein und sagte: ,I sott a neis Gschdell hann.‘ Ich starrte ihn nur an.“

Was das Paar zuerst lernte: Wenn man die Wohnung verlässt, macht man das Licht aus. „In Island gibt es durch Wasserkraft und Geothermie Strom im Überfluss, Elektrizität kostet fast nichts“, sagt Rúnar.

Man kann einen ganzen Tag lang durch Island fahren, ohne einem anderen Auto zu begegnen. Hier gab es keinen Feldweg, wo nicht bald zwei Scheinwerfer hinter einem aufleuchteten. Zweite Lektion: Die Deutschen verfolgen einen nicht, es gibt nur überall welche.

„In Island kennt fast jeder jeden“, sagt Auður. „Und wenn nicht“, sagt Rúnar, „hat man nach zehn Minuten Gespräch einen gemeinsamen Bekannten ausgemacht – oder entdeckt, dass man verwandt ist.“ Ein zwei Finger dickes Telefonbuch reicht für das ganze Land. Es ist nach den Vornamen geordnet. „Niemand würde mich mit ,Herr Emilsson‘ ansprechen. Man sagt Rúnar oder Rúnar Emilsson.“

Edda für Erstklässler

Seine Töchter Elin Inga, 20, und Harpa Bryndis, 18, haben den Nachnamen Rúnarsdóttir (dóttir für Tochter), sein Sohn Emil Knútur, 26, heißt Rúnarsson. Durch diese simple Konstruktion können viele Isländer ihre Abstammung bis in die Zeit zurückverfolgen, als die ersten Wikinger an Land gingen. Seitdem hat sich auch die Sprache kaum verändert. Es gibt so gut wie keine Dialekte, und die meisten Wörter sind heute noch dieselben wie vor 1100 Jahren. Jeder Erstklässler kann ohne große Hindernisse in die Heldensagen der Edda oder in Snorri Sturlusons mittelalterliche Geschichtsschreibung eintauchen.

Nach dem Studium arbeitete Rúnar als Klavierlehrer in einigen Musikschulen, fing beim Zweckverband Musikschulen Schozachtal an, wurde dann Leiter der Musikschule Backnang. Auður arbeitet heute als Integrationshelferin in der Backnanger Mörikeschule. Immer wieder plagten sie heftige Heimwehattacken. Ihn weniger. Schließlich kauften sie sich ein Haus in Aspach, da wollen sie nun bleiben. Seit Rúnar die Musikschule im hessischen Viernheim leitet, ist er Wochenendpendler.

Musik verbindet die Familie. Rúnar und Auður lernten sich kennen, als sie die Musikschule seines Vaters besuchte. Alle drei Kinder haben ein Instrument gelernt. Die Mädchen sind noch ambitioniert bei der Sache, nur Emil Knútur will nicht mehr so richtig. „Für mich ist das überhaupt nicht schlimm“, sagt Rúnar.

„Oh Tannenbaum“ als Wanderlied

Wenn sie Hausmusik machen, erklingen nicht nur seine geliebten Stücke von Chopin, Mozart, Liszt, sondern auch die alten Seemanns- und Volkslieder der Heimat. Viele sind deutschen Ursprungs: Die Melodie von „Oh Tannenbaum“ wird in Island zu einem Wanderlied geschmettert. „Ein Männlein steht im Walde“ haben die Isländer mit einem Text über Trolle veredelt. „Unsere Volkslieder sind nicht fröhlich“, sagt Rúnar. „Sie tragen alle etwas Trauriges in sich. Einen Hauch von Einsamkeit und Fremde.“

Früher gab es einen rührigen Islandverein in Deutschland. Mittlerweile haben sich die Reihen merklich gelichtet: „Um die Jahrtausendwende“, sagt Rúnar, „gingen viele Auswanderer zurück, weil die Wirtschaft boomte wie verrückt und paradiesische Zustände verhieß.“ Isländische Banken schienen die Erfolgsformel gefunden zu haben: groß ins internationale Spekulationsgeschäft einsteigen und nach bester Wikinger-Art aggressiv expandieren. Wohlstand auf Pump.

Der „nordische Tiger auf dem Sprung“, wie man Island nannte, landete als räudiger Kater. Als nach der Pleite der US-Bank Lehman Brothers die Weltwirtschaft wankte und kein Geld mehr ins Land kam, kollabierten die Banken, die Krone fiel ins Bodenlose, die Arbeitslosenquote stieg auf für isländische Verhältnisse astronomische 7,5 Prozent. Sogar McDonald’s kehrte der Insel den Rücken, weil der Import von Gurken und Pommes zu teuer wurde.

Island erlebte eine unglaubliche Genesung, liegt heute wieder auf dem Niveau wie vor dem Knall. Rúnar traut dem neuen Glanz nicht. „Es ist nicht nur toll, was da passiert. Alle wollen rasch reich werden, die Stimmung ist nervös.“

Trolle am Klöpferbach

Sein Heimatgefühl sei nicht besonders ausgeprägt, sagt er. „Vom Herzen her ginge ich schon gern zurück als Rentnerin“, sagt Auður, „aber das Leben ist sehr teuer.“ Für die Kinder ist es jedes Mal wie heimkommen, wenn sie wieder auf poröser Lavaerde stehen. Sie sind in Aspach aufgewachsen, aber irgendwie ist ihr Elternhaus auch eine nordische Insel im Schwäbisch-Fränkischen Wald. Zu Hause sprechen sie nur Isländisch. „Ich würde mir aber nicht zutrauen, die Uni in Reykjavík zu besuchen – wegen der Fachbegriffe“, sagt Elin. Sie studiert jetzt Jura in Jena, kämpft lieber mit den sprachlichen Finessen Thüringens.

Auch Trolle sind jetzt heimisch am Klöpferbach von Aspach. Bald ist wieder Advent, dann kommen Löffellecker, Keulenklauer, Türschlitzschnüffler und ihre Brüder. Die Isländer haben 13 Weihnachtsmänner. In den Nächten vor Heiligabend steigt je einer von ihnen die Berge hinab zu den bebauten Gebieten, um Geschenke in die Stiefel zu legen. Die Gnome haben es schwer: Ihre Mutter Grýla ist eine dreckige, hässliche Nörglerin, ihr Vater Leppalúði ein fauler Schnarcher. Und ihr Kater frisst Menschenkinder mit Haut und Haaren.

Bei Emilssons bekommt der Gast leckere Pfannkuchen und Thunfischsalat zum Nachmittagskaffee, später darf er noch getrockneten Schellfisch knabbern. Vor allem Auður liebt die traditionellen Gerichte aus der Heimat. Der Rest der Familie ist nicht ganz so Feuer und Flamme für einen Festschmaus wie in Molke eingelegte Hammelhoden, schwarz gesengte Lammfüßchen, saure Schwimmblasen oder fermentierter Grönlandhai (auch als Gammelhai bekannt), der in gummiartigen Häppchen serviert wird.

Beim letzten Heimatbesuch hat Auður wieder ihren berüchtigten geräucherten Schafskopf zubereitet, den man ratzeputz (inklusive Augen und Zunge) verzehrt. „Es riecht schrecklich“, sagt Harpa. Am liebsten hätte Auður den Kopf mit nach Aspach gebracht, aber die Angst, am Flughafen verhaftet zu werden, überwog. Sie machte eine Sülze draus.