Matthias Klink (Dichter) und Melanie Diener (Sängerin) in „Reigen“ Foto: A. T. Schaefer

1993 hat Stuttgarts Generalmusikdirektor Sylvain Cambreling in Brüssel die Uraufführung der zweiten Oper dirigiert, die der dortige Hauskomponist für das Theatre de la Monnaie geschrieben hatte. Jetzt hat Cambreling das Stück nach Stuttgart geholt. Es wurde ein gut gemachter Abend im freundlichen Komödienton: nette Unterhaltung mit Längen.

Stuttgart - Es beginnt mit den Augen. Kaum merklich senken sich die Lider. Auch Pupillen und Iris zittern, bewegen sich nach oben, so dass fast nur noch die weiße Lederhaut zu sehen ist. Hinzu kommt ein Zucken: Die Haut um den Mund zieht sich zusammen, kräuselt sich, die Lippen öffnen sich leicht. Das Gesicht des Mannes auf der Leinwand sieht, mit Verlaub, ein wenig blöde aus. Animalisch. Er ist nicht bei sich, sondern irgendwo anders. Wo Matthias Klinkgewesen ist, erfährt man erst, als er zurückkehrt und das eben Erlebte, noch immer mit starrem Blick, in wenigen Worten zusammenfasst. „Das“, schwärmt der Tenor, der hier den Dichter spielt (und das Publikum im Saal schmunzelt bei seinem Darsteller-Kabinettstückchen), „das war überirdische Seligkeit!“

Oft kommt Videotechnik im Musiktheater nur dann zum Einsatz, wenn Regisseuren nichts (oder zumindest nichts Besseres) einfällt. Bei Nicola Hümpels Inszenierung der Oper, die der Belgier Philippe Boesmans 1993 über Arthur Schnitzlers 1920 uraufgeführtes bissiges Gesellschaftsstück „Reigen“ komponierte, ist das nicht der Fall. Zumindest dort nicht, wo Judith Konnerth in den zehn Szenen über das Vor- und das Nachspiel von zehn Geschlechtsakten die Gesichter der Darsteller heranzoomt, so dass das Publikum hautnah beobachten kann, wie sich Gedanken, Gefühle und Aktionen in deren Mimik niederschlagen. Das ist spannend, es ist stimmig, es passt zu einer Musik, die auch die emotionalen Leerstellen des Schauspiels füllen und von den Sehnsüchten der Darsteller erzählen will, und es passt zu einer Inszenierung, der man ansieht, dass und wie sehr sie aus dem Geist einer improvisierenden Körperarbeit entstanden ist.

Manches Relikt des gemeinsamen Ausprobierens wirkt noch unfertig und allzu zaghaft – etwa wenn das „süße Mädel“ auf einem Tisch erst eine Familienkonstellation mit Ketchupflasche, Brötchen und Gewürzdöschen darstellt, dann anzüglich mit einem armen Würstchen herummacht oder wenn der junge Herr und das Stubenmädchen mit den Schaumstoffauflagen eines Sofas spielen. Wenn man, wofür es gute Gründe gibt, dem Abend eine allzu große Neigung zum Dekorativen vorwirft, dann ist daran aber meist weder die Regie schuld noch die eingesetzte Videotechnik, sondern ausschließlich die Musik selbst.

Eher illustrative Schauspiel- als Opernmusik

Philippe Boesmans, der im Mai seinen achtzigsten Geburtstag feiert, hat für „Reigen“ eher eine (illustrative) Schauspiel- als eine wirklich eigenständige Opernmusik geschrieben. Eklektizistisch kann man sein handwerklich geschicktes Mäandern zwischen Anleihen bei unterschiedlichen Stilen, Epochen und Komponisten nennen, das große expressionistische und spätromantische Gesten ebenso einschließt wie nachimpressionistische Klangfarbenspiele und ein paar wenige Momente aus dem Geist der seriellen Musik. Das Staatsorchester setzt die Partitur unter der Leitung des Uraufführungsdirigenten Sylvain Cambrelingpräzise um – und beweist außerdem einen ausgeprägten Sinn für jene zahlreichen Momente, in denen der Komponist seine Mittel ironisch einsetzt – bei der Figurenzeichnung, aber zum Beispiel auch dort, wo die Musik im Ton eines freudigen Bach-Chorals den endlich erreichten Orgasmus des jungen Herrn kommentiert oder wo sie beim „Man töte diese Mücke!“ direkt Strauss’ „Salome“ zitiert.

Die Oper ist pickepackevoll von derartigen Anspielungen, die man durchaus genießen kann. Dass sie auch pickepackevoll ist mit glücklichen Terzen, ist dem Genuss weniger zuträglich.

Der zuckrige Wohlklang ist vor allem bei jenem Paar zu Hause, das Boesmans aus dem Off singen lässt: Von dort erklingen schöne Vokalisen und Worte des biblischen Hohelieds, die sich erotisch in- und umeinander herum schlingen. Sie sollen eine utopische Gegenposition zu Schnitzlers illusionslosen Begegnungen kommunikationsgestörter Menschen sein, die Luc Bondy als Librettist der Oper noch stärker ins Typenhafte getrieben hat.

Videoaufnahmen von sehr ästhetischen erotischen Annäherungen zweier Schauspieler verstärken diesen emotionalen Kontrapunkt derart, dass er sehr stark wird. So stark, dass im Zusammenspiel der harmonisch reichlich gesättigten Musik mit dem Bild die Grenze zum kitschigen Zuviel mehrfach deutlich überschritten wird.

Die triefende Süßigkeit des Stücks ist Folge eines strukturellen Problems: Immer wieder bremst die Oper, die unbedingt auch unterhaltsame Komödie sein will, die Schauspielvorlage aus, die das nur an der Oberfläche ist, nimmt ihr schlichtweg das Tempo und damit auch die Schärfe; dann schleppt sich das Davor, das Danach und das Dazwischen so lala dahin, und mit gutem Grund wirken die Bilder des zweiten Programmteils immer länger und zäher.

Oliver Proskes Bühnenbild ist ein Ereignis

Dabei ist auf der Szene eine Menge los. Allein Oliver Proskes Bühnenbild ist ein Ereignis: wie es das oft mit deutlichem Augenzwinkern entworfene, fantastische Mobiliar der einzelnen Szenen durch Aussparungen in der rechten Seitenwand hinaus- und durch Aussparungen in der linken hineinfahren lässt, wie es immer neue, meist steril gekachelte Räume aufblättert, als seien die Wände Buchseiten. Melanie Diener gibt eine wundervoll überkandidelte Sängerin (die in der Oper die Schauspielerin aus Schnitzlers Stück ersetzt), Matthias Klink einen ebenso wundervoll selbstbezogenen Dichter, André Morsch einen kunstsinnigen, von Selbst- und Weltekel zerfressenen gräflichen Bohemien. Sebastian Kohlhepp ist ein innerlich ortloser junger Herr mit schönem tenoralem Kern, Shigeo Ishino ein bigotter Gatte im Schlafanzug, Lauryna Bendziunaite eine selbstbewusst-verspielte Dirne, Rebecca von Lipinski eine junge Frau, die – eine der witzigsten Szenen des Abends – den Gatten mit dem Namen ihres Liebhabers anspricht, Stine Marie Fischer wirkt als Stubenmädchen innerlich wie äußerlich irgendwie verrenkt, Kora Pavelic wie ein ziemlich selbstbewusstes süßes Mädel.

Sie alle kann man – vor allem in Boesmans’ typischem musikalischem Sprechton – singen und (ernüchtert jeweils nach dem Geschlechtsakt) auch sprechen hören; Bezüge zum Heute werden (unter anderem durch die Bewaffnung der Darsteller mit Laptops und Smartphones) deutlich. Man wird unterhalten, meistens gut.

Von der Kompromisslosigkeit und Härte des Schauspiels ist das jedoch Welten entfernt. Diese „Reigen“-Oper ist Komödie ohne Biss, und es ist die Musik selbst, die der bösen Satire derart die Zähne gezogen hat, dass selbst Anspielungen auf denkwürdige virtuelle Beziehungskisten unserer Tage keinen Stachel in sich tragen. Vielleicht sollte Philippe Boesmans mal Jan Böhmermanns Schmähgedicht vertonen. Der türkische Präsident würde sich gewiss zurücklehnen, genießen, ja vielleicht sogar zwischendurch prustend auf die Schenkel klopfen, und unser Staat hätte eine Doppelmoral und eine Affäre weniger.

Weitere Vorstellungen am 29. April, 6., 10., 13. und 20. Mai. Karten: 07 11 / 20 20 90.