Gedenkveranstaltung am Platz der ehemaligen Synagoge Bad Cannstatt Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Bei den Gedenkveranstaltungen zur Reichspogromnacht am 9. November 1938 war die Aktualität allgegenwärtig. Auch aus der Lehre der Geschichte müsse Deutschland der humanitäre Umgang mit Flüchtlingen wichtig sein.

Stuttgart - Wo einst die Cannstatter Synagoge stand, ist heute ein Hinterhofparkplatz. Auf dem Gelände an der König-Karl-Straße 45/47 erinnert ein auf den Boden gezeichneter Grundriss an das 1876 erbaute jüdische Gotteshaus und ein Gedenkstein an das Verbrechen an den Juden. Am Montag wurde an dieser historischen Stätte an den 9. November 1938 erinnert.

Vor 77 Jahren brannten in ganz Deutschland Synagogen, angezündet von der Feuerwehr. Organisiert wurde dies von den Parteiapparaten der Nationalsozialisten. Am nächsten Tag wurden jüdische Geschäfte geplündert, Zehntausende Juden gejagt, in Konzentrationslager verschleppt und Hunderte ermordet. Auch die Synagoge in Bad Cannstatt wurde in dieser Nacht angezündet. Die Geschwister Josef und Jette Buxbaum, die in Cannstatt eine Metzgerei betrieben, gehörten zu den Opfern. Anhänger der Sturmabteilung des NS-Regimes zertrümmerten mit Spitzhacken die Ladenfenster der Metzgerei. 1942 wurden die Buxbaums nach Theresienstadt deportiert und später im Vernichtungslager Treblinka ermordet. Zwei mit einer Messingplatte überzogene Stolpersteine halten in der Schulgasse seit 2007 die Erinnerung an Josef und Jette Buxbaum wach. Insgesamt sind in Stuttgart über 700 dieser Stolpersteine verlegt.

Aufruf zum aktiven Widerstand

Das von linksgerichteten Gruppen gegründete „Bündnis zum Gedenken an die Pogromnacht in Bad Cannstatt“ initiierte jetzt zum sechsten Mal eine Veranstaltung, um an die Judenverfolgung und den Krieg zu erinnern, an dessen Ende weltweit 60 Millionen Tote standen. Die Hauptredner des von über 100 Zuhörern begleiteten Treffens stellten immer wieder die Parallelen zur Aktualität her. „Wenn heute Flüchtlinge in ihren Unterkünften bedroht werden, dann ist das wie 1938“, sagte Rainer Redies von der Cannstatter Stolperstein-Initiative und rief zum aktiven Widerstand auf: „Wir sind verantwortlich dafür, dass nicht noch einmal geschwiegen und weggesehen wird.“

Der frühere SPD-Stadtrat Gerhard Dürr erlebte die Reichpogromnacht als Zehnjähriger und hat die Erinnerungen bis heute nicht vergessen. Umso mehr bekümmert ihn, dass in Deutschland wieder Unterkünfte von Flüchtlingen angezündet und mit Hakenkreuzen beschmiert werden. „Das erfüllt mich mit Angst und Schrecken“, so der frühere Theologe über den „latent vorhandenen Rassismus in unserer Gesellschaft“. Dürr ist aber auch beeindruckt von der „breiten Welle an ehrenamtlichem Engagement“, wie man es bei anderen Flüchtlingsströmen noch nie erlebt habe. Diese Chance gelte es zu nutzen. „Die real gelebte Humanität ist die wirksamste Waffe gegen den Rassismus“, rief der 87-Jährige zur Solidarität mit den Flüchtlingen in Deutschland auf.

Auch die Israelitische Religionsgemeinschaft Württemberg (IRGW) und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Stuttgart gedachten des 77. Jahrestags der Reichspogromnacht. In der Synagoge im Hospitalquartier beteiligten sich Jugendliche aus der IRGW und von Stuttgarter Schulen vor mehr als hundert Zuhörern am Montagabend an einem eigens zu diesem Anlass ins Leben gerufenen Theaterprojekt.