In der Verhandlung vor dem Stuttgarter Oberlandesgericht ging es nochmals um einen Schusswechsel zwischen einem Angeklagten und einem SEK-Kommando, bei dem ein Beamter schwer verletzt wurde.
Vier Minuten und 30 Sekunden vergehen. Von der Sprengung der Wohnungstür im dritten Obergeschoss in der Reutlinger Peter-Rosegger-Straße 86. Bis zum ersten Mal in der Wohnung geschossen wird. Aus der Dienstpistole eines SEK-Beamten mit der Tarnbezeichnung 11. Abgefeuert auf Markus L., der sich hinter einem mit einer schusssicheren Weste gepanzerten, drehbaren Fernsehsessel verschanzte. Und sofort mit einem US-amerikanischen AR-15-Gewehr das Feuer erwidert. 16 mal hätten Beamte des Spezialeinsatzkommandos (SEK) Baden-Württemberg mit ihren Pistolen gefeuert, zählten Ermittler. Zehnmal habe der passionierte Sportschütze L. mit seinem Gewehr zurückgeschossen.
Polizist „Nummer 6“ wird am Ellbogen getroffen
L., so der Generalbundesanwalt, habe mit anderen geplant, das politische System der Bundesrepublik gewaltsam zu beseitigen und durch ein anderes, bereits in seinen Grundzügen feststehendes System zu ersetzen. An dessen Spitze habe als Staatsoberhaupt Heinrich XIII. Prinz Reuss gestanden. 26 mutmaßliche Gründer und Mitglieder dieser mutmaßlichen Rechtsterrorgruppe verantworten sich in Frankfurt und Stuttgart vor Gericht; ab Mitte diesen Monats zusätzlich in München.
In Stuttgart versuchen Richterinnen und Richter des 3. Strafsenats am Oberlandesgericht gerade zu rekonstruieren, was am 22. März 2023 in Reutlingen geschah. Fest steht: Um 6.04 Uhr und 15 Sekunden sprengten Beamte des Spezialeinsatzkommandos Baden-Württemberg das Türschloss aus der Wohnungstür L.s. Vier Minuten und 42 Sekunden später meldete der als erstes in die Wohnung eindringende Beamte, Tarnnummer 6, dass er getroffen wurde. Obwohl er einen schusssicheren Schild vor sich trug, der ihn schützen sollte. Genau 20 Sekunden später fasst Nummer 6 selbst noch während des Rückzugs aus der Wohnung zusammen, was sein Leben grundlegend verändern sollte: „Ey, mein Arm ist komplett am Arsch.”
Ein Geschoss aus dem Sturmgewehr L.s hatte am Schutzschild vorbei den rechten Ellbogen des jungen Polizisten durchschlagen. Weitere vier Treffer zählten Kriminaltechniker auf dem schusssicheren Schild mit der Seriennummer 012052 B, den Nummer 6 während des Einsatzes trug.
Das Schloss der Wohnungstür wurde herausgesprengt
Der Beamte Nummer 2, Einsatzleiter der Razzia, schilderte: „Es kam zu einem massiven Schusswechsel.“ Seine oberstes Ziel sei es nach der Verwundung seines Kameraden gewesen, Leben und Gesundheit Unbeteiligter und seiner Kollegen zu schützen: In der Wohnung unter L. lebte eine junge Familie mit kleinem Kind. Das Heraussprengen des Türschlosses sei die schonendste Möglichkeit gewesen, Unbeteiligte, L. und die SEK-Beamten selbst nicht zu gefährden.
Im Durchsuchungsbeschluss hatte ein Richter des Bundesgerichtshofes ausdrücklich darauf hingewiesen, dass L. die Durchsuchung hätte abwenden können, wenn er die gesuchten Gegenstände freiwillig herausgegeben hätte. Vor diesem Hintergrund fragte Anwalt Holger Böltz, ob der Polizist der Auffassung sei, dass die Öffnung der Tür durch Sprengung rechtmäßig gewesen sei. Eine Frage, die der Vorsitzende Joachim Holzhausen nicht zuließ: Die Frage könne der Polizist nicht beantworten, weil er kein Jurist sei. Da sei aber notwendig, um diese Frage überhaupt beantworten zu können.
Waffen und Sprengstoff im Haus
Ein SEK selbst führt weder eine Durchsuchung durch, noch eröffnet es gar einem Beschuldigten deren Gerichtsbeschluss: Es sichert lediglich Objekte und Verdächtige, sodass andere Polizisten dann den Beschluss aushändigen und nach Dingen suchen können. L. verfügte über mehrere waffen- und eine sprengstoffrechtliche Erlaubnisse.
Die Stimme und das Äußere des Polizisten wurde in der Videovernehmung so verändert, dass sie nicht zu identifizieren sind.
In Reutlingen wurde der zweite Polizist des SEK Baden-Württemberg bei einer Razzia im Reichsbürgermilieu in weniger als einem Jahr schwer verwundet: Im April 2022 schoss ein inzwischen zu 14 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilter Reichsbürger in Boxberg unweit von Tauberbischofsheim mit einem Sturmgewehr auf eine SEK-Gruppe und verletzte einen Beamten schwer.