Wegen Unzucht mit Männern ist Helmut Kress als 15-Jähriger inhaftiert worden. Lange hat der schwule Tübinger Wirt über seine Verurteilung nach Paragraf 175 geschwiegen. Ein Gesetz soll die Justizopfer entschädigen – auch Kress hofft auf seine Rehabilitierung.
Tübingen - Als abnormal sind Jungs wie er beschimpft worden, als pervers und zügellos. „Ich hatte nie das Gefühl, dass ich krank bin“, sagt Helmut Kress, „ich war der Brave in der Familie, immer geschniegelt, immer das Hemd gebügelt.“ Umso fassungsloser war der damals 15-Jährige, als ihn morgens um 10 Uhr die Kriminalpolizei mit einem Wagen im Tübinger Stadtplanungsamt abholte, das war im Herbst 1961. Sie legten dem Lehrling, der Bauzeichner werden wollte, Handschellen an und führten ihn vor den Augen der Kollegen ab. Das Verhör dauerte bis in den Abend hinein und der eingeschüchterte Helmut Kress gestand, was bis dahin sein Geheimnis war: Er hatte eine Schwäche für andere Jungs und Männer, er traf sie heimlich auf der Abortanlage am Neckarufer und schlug sich mit ihnen ins Gebüsch. Es waren schnelle Kontakte, ein sexuelles Experimentieren in jungen Jahren.
„Es machte Spaß, ich habe mir nicht viel dabei gedacht“ erinnert sich Helmut Kress. Er musste für seine Unbekümmertheit bitter bezahlen. Wegen fortgesetzter Unzucht zwischen Männern sprach ihn das Amtsgericht Tübingen nach Paragraf 175 Strafgesetzbuch am 10. Februar 1962 schuldig. „Um dem Angeklagten Gelegenheit zu geben, über die Schamlosigkeit seines Treibens einerseits und über die Notwendigkeit seinen Geschlechtstrieb in Zucht zu halten, nachzudenken, hat ihn das Gericht zu zwei Wochen Jugendarrest verurteilt.“ So steht es in der dreiseitigen Begründung des Urteils, das keinen Zweifel lässt an der „schädlichen Neigung“ des Beschuldigten.
Eine finanzielle Entschädigung für jedes Jahr hinter Gitter
Lange hat Helmut Kress geschwiegen über die Demütigungen jener Zeit, er hat verdrängt, was verboten war. Seine Sprache fand er dank Bundesjustizminister Heiko Maas wieder. Der hat jüngst einen Gesetzesentwurf vorgelegt, um Homosexuelle, die nach dem Paragrafen 175 verurteilt wurden, kollektiv zu rehabilitieren. Auch eine finanzielle Entschädigung für jeden einzelnen ist geplant: 3000 Euro für die Verurteilung, 1500 Euro für jedes angefangene Jahr hinter Gitter. „Die alten Urteile sind Unrecht. Sie verletzten jeden Verurteilten zutiefst in seiner Menschenwürde“, sagt Maas. Als „verfassungswidrig“ bezeichnet der Justizminister den 1935 von den Nationalsozialisten verschärften Paragrafen, den die Bundesrepublik übernommen und rigide verfolgt hatte. Bis 1994 standen homosexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe. Mindestens 54 000 Angeklagte wurden verurteilt, sie saßen oft jahrelang im Zuchthaus, weil sie Männer liebten. Entschärft wurde der Nazi-Paragraf erst 1969 – strafbar war der Homo-Sex dann nur noch bei Partnern unter 21 Jahren.
Die späte Genugtuung ist Kress wichtig. Er werde auf jeden Fall einen Antrag auf Entschädigung stellen, sagt der Wirt und lehnt sich auf der Eckbank gemütlich zurück. In die Weinstube Göhner in der Tübinger Unterstadt kommen die Gäste wegen der hausgemachten Maultaschen, der urigen Einrichtung und wegen Helmut Kress, den alle nur Poldi nennen. „Ich habe noch nie ein Doppelleben geführt“, sagt der 70-Jährige und dass er bei den Schwulenwitzen, die am Handwerkerstammtisch gerissen werden, herzhaft mitlachen könne. Kress ist ein Mann mit Bratkartoffelbauch, der sogar im Winter kurzärmlige Polo-Shirts und blaue Lederslipper trägt. Seine langjährige Begleiterin schläft nachts auf der Matratze neben ihm und passt ziemlich genau in eine seiner kräftigen Hände. Sie hört auf den Namen Schnecke und ist eine Mischung aus Chihuahua und Malteser. Während Kress erzählt, sitzt die Hündin neben ihm und spitzt gelegentlich neugierig die kleinen Ohren.
Ein Zuchthaus wie im Film
An die zwei Wochen Jugendarrest erinnert sich Kress bis ins kleinste Detail. Mit dem Zug war er alleine nach Oberndorf am Neckar gefahren, meldete sich an der schweren Tür der Haftanstalt. „Es war ein Zuchthaus wie im Film“, sagt er, ein Eimer mit Deckel diente als Toilette in der Einzelzelle, das Fenster war weit oben und vergittert. Kein Wort sprechen durften die Gefangenen, während sie Briefumschläge klebten oder Tarnnetze für die Bundeswehr knüpften. „Einmal die Woche gab es einen harten Tag, da mussten wir statt auf Matratzen auf Holzbrettern schlafen.“ Noch schlimmer als die Haft war für den Jugendlichen der Bruch mit seinem Vater. Nach dem Prozess sprachen sie kaum mehr miteinander – zu groß war die Schmach, zu schwer zu ertragen waren für den Senior all die Einzelheiten, die das Verfahren ans Licht gebracht hatte. Der Vater war ein strenger Eisenbahner. Er musste die Familie alleine versorgen, weil die Mutter mit einem Tumor querschnittsgelähmt im Krankenhaus lag. Von den sechs Kindern wohnten noch zwei zuhause. „Mein älterer Bruder war der Rabauke, der Problemjunge, eigentlich war ich immer der Unauffällige“, sagt Kress. Das Passfoto im Ausweis des Jugendrotkreuzlers zeigt einen ernsten Jungen. Die Haartolle mit Frisiercreme nach hinten gekämmt, links sitzt ein ordentlicher Scheitel.