In Westminster herrscht die Versuchung, auf den Tag des Rücktritts von Liz Truss zu wetten. Foto: AFP/DANIEL LEAL

Bleich und praktisch entmachtet kämpft die britische Premierministerin um den Verbleib auf ihrem Posten. Ihre Chance sieht sie darin, dass sich ihre Partei auf keinen Nachfolger einigen kann.

In Westminster muss die Versuchung groß sein, auf den Verbleib von Liz Truss im Amt der Premierministerin Wetten abzuschließen. „Bis Weihnachten“ werde sie sich möglicherweise halten können, meinen Abgeordnete. „Maximal zwei Wochen“ hat Ex-Fraktionschef Andrew Mitchell ihr gegeben: „Wenn sie ihren Job nicht tun kann, wird sie ersetzt.“ Skeptischere Tories können nicht sehen, wie Truss es schaffen will, an diesem Mittwoch zur wöchentlichen Fragestunde dem Unterhaus Rede und Antwort zu stehen. „Sie ist schon jetzt völlig erledigt“, finden sie. „Für sie ist alles vorbei.“

Tatsächlich hatte sich Truss am Montag noch geweigert, zu einer Eilanfrage der Opposition anlässlich der Krise ihrer Regierung persönlich Stellung zu nehmen. Stattdessen schickte sie ihre Ministerin für parlamentarische Angelegenheiten, Penny Mordaunt, an die Front, die in aller Form dementieren musste, dass die Regierungschefin sich „unter einen Tisch verkrochen“ habe, um sich dem Hagel der Kritik zu entziehen.

Truss saß stumm und bleich neben dem Schatzkanzler

Danach tauchte Truss für zwanzig Minuten auf, um stumm, bleich und mit unbewegter Miene neben Schatzkanzler Jeremy Hunt auf der Regierungsbank zu sitzen, während Hunt, dem Truss vorigen Freitag das Finanzministerium übergeben hatte, fast alle ihrer bisher verkündeten Maßnahmen für null und nichtig erklärte und so ihr gesamtes Regierungsprogramm in den Reißwolf warf.

Ein derart demütigendes Schauspiel habe man selten erlebt, bekannten Anhänger wie Gegner von Truss, als sie die Regierungschefin wortlos neben Hunt sitzen sahen. Binnen weniger Wochen war die unbekümmerte Wachstums-Mission von Truss, war deren radikales Steuersenkungs-Modell, auf spektakuläre und kostspielige Weise kollabiert. Was, fragten nicht nur Sprecher der Opposition perplex, mache Liz Truss noch in Downing Street? Mühsam rappelte sich die Regierungschefin auf, im klaren Bewusstsein, dass den Kurs nun nicht mehr sie, sondern der Schatzkanzler vorgibt.

Die Tories liegen 36 Prozentpunkte hinter Labour

Gefragt, wie sie ihre Zukunft sehe, sagte sie: „Ich werde die Konservativen in die nächsten Unterhauswahlen führen.“ Dem folgte aber ein kleines, nervöses Lachen ihrerseits. Zu den „internen Debatten“ in der Partei wolle sie nichts sagen. Allzu große Illusionen über ihre prekäre Lage dürfte sich Liz Truss trotz aller Durchhalteparolen kaum machen. In Umfragen liegt die Tory-Partei 36 Prozentpunkte hinter Labour.

Für den späten Dienstagnachmittag hatte Truss ein Treffen mit Vertretern der Parteirechten organisiert. Von diesem Flügel, der sie noch im Sommer leidenschaftlich unterstützte, sind inzwischen, wegen der kompletten Kehrtwende die bittersten, die feindseligsten Bemerkungen zu hören.

Zuvor hatte sich Truss bei der Gruppe der „One-Nation-Tories“, den eher gemäßigten Konservativen in der Fraktion, eingefunden und diese um Verzeihung und Unterstützung in der gegenwärtigen „schwierigen Lage“ gebeten. Mit Zusicherungen, dass sie auf ihrem Posten bleiben könne, hielten sich die meisten allerdings vorsichtig zurück.

Gemäß allen Umfragen fehlt es den Tories an Glaubwürdigkeit

Kein Wunder: Truss´ Partei findet sich mittlerweile in einem echten Dilemma. Mit der nun zum Abbruch ihres Experiments gezwungenen Premierministerin an der Spitze fehlt es den Tories, wie alle Umfragen zeigen, an Glaubwürdigkeit. Ohne Truss können die Konservativen aber nur weitermachen, wenn sie sich relativ schnell auf einen Nachfolger oder eine Nachfolgerin einigen – und das ist bisher ein Problem für die Partei.

Zusätzliche Schwierigkeiten werfen Jeremy Hunts erste Hinweise auf den Finanzplan auf, den er in knapp zwei Wochen vorlegen will. Der Schatzkanzler hat deutlich gemacht, dass er an Steuererhöhungen statt Steuersenkungen denkt, und dass so gut wie alle Ressorts mit Ausgabenkürzungen rechnen müssen. Und dass der von Truss auf zwei Jahre hin angelegte „Energiepreis-Deckel“ im April schon wieder abgebaut werden soll.

Viele Briten fürchten finanzielle Überforderung

Viele Briten fürchten, dass horrende Energiekosten, doppelte und dreifache Ratenzahlungen für Hypotheken und reale Verluste bei Renten und Sozialleistungen auf sie zukommen. „Beruhigende“ Mitteilungen habe er leider nicht zu machen, räumte Hunt denn auch ein.

Auf dem am Dienstag eröffneten Kongress des britischen Gewerkschaftsbundes TUC meinte Generalsekretärin Frances O´Grady, nach zwölf Jahren konservativer Regierung hätten schon jetzt Millionen Mitbürger größte Mühe, sich über Wasser zu halten. Die Tories, sagte sie, seien „reines Gift“ für die Gesellschaft. Es sei höchste Zeit für Wandel – und für Neuwahlen.

Im konservativen Lager wäre man natürlich froh, wenn sich Wahlen vorläufig vermeiden ließen. Selbst die Tory-Mitgliedschaft, die im Sommer noch mit Zweidrittelmehrheit für Truss stimmte, ist mittlerweile zum Schluss gekommen, dass sie mit diesem Entscheid Schlimmes angerichtet hat.

Letzten Ermittlungen des YouGov-Instituts zufolge drängen sogar 55 Prozent der Tory-Aktivisten auf einen raschen Rücktritt. Klarer Favorit der Tory-Basis für die Nachfolge ist: Boris Johnson, der Ex-Premier.