Die Trumpf-Chefin Nicola Leibinger-Kammüller hielt die Reformationspredigt in der Gerlinger Matthäuskirche. Foto: factum/Granville

Hunderte Besucher hören sich in der Gerlinger Matthäuskirche die Predigt von Trumpf-Chefin Nicola Leibinger-Kammüller anlässlich des Reformationsjubiläums an. Auch in Ditzingen ist der Andrang überraschend groß – dort spricht ihr Bruder.

Gerlingen/Ditzingen - Dass die Matthäuskirche in Gerlingen am Reformationstag sehr gut besucht ist, weiß die Pfarrerin Margit Schmid. Schließlich halten an diesem Tag stets Prominente aus Politik, Wirtschaft, Kultur oder Sport die Predigt. Dass die Kirche an so einem Tag aber einmal aus allen Nähten platzt, einige Besucher deshalb frustriert heimgehen, überrascht Schmid. So geschehen am Dienstag.

Man könnte meinen, dass die Dutzenden Bürger aus Gerlingen und den Nachbarkommunen vor der Kirche frische Luft schnappen. Weit gefehlt. Sie warten draußen, weil drinnen die 300 Sitzplätze belegt sind und ein Durchkommen unmöglich ist, denn um die Stühle herum drängen sich die Leute stehend. Deutschland feiert 500 Jahre Reformation, doch der eigentliche Grund für das große Interesse ist die Predigt von Nicola Leibinger-Kammüller, der Chefin von Trumpf, des Ditzinger Konzerns für Werkzeugmaschinen.

Vielleicht hat der eine oder andere die 57-Jährige einmal als gläubige Privatperson in der Matthäuskirche entdeckt, zumal das ihre Heimatkirche ist, dort wurde sie schon konfirmiert. Ein Novum ist, dass Leibinger-Kammüller predigt. Sonst spricht sie in ihrer Funktion als Unternehmerin vor Menschen. „Der Respekt vor dieser Aufgabe ist nicht unbeträchtlich“, gesteht sie zu Beginn ihrer Predigt unter der Überschrift „Die Gnade der Freiheit“.

Revolutionär und Rebell

Sie blickt sie auf das, was Martin Luther hierzulande bewirkt habe: Er habe Freiheit und Fortschritt gebracht. „Wir können uns dem Gedanken eines Umsturzes zumindest im historischen Kontext nicht entziehen, wenn wir gemeinsam an die Reformation erinnern“, sagt Leibinger-Kammüller. Luther sei ein Revolutionär, Rebell, moderner Dichter und Erzähler, ein Kommunikator gewesen. Ein Mann, den auch Härte und Kompromisslosigkeit geprägt hätten.

Dass sie als Frau auf der Kanzel stehen könne, Deutsch und ein wenig Schwäbisch sprechen dürfe – all das gehe auch auf Luther zurück. „Trotzdem ist die Freiheit alles andere als vollendet“, sagt Leibinger-Kammüller – in vielen Teilen der Welt werde sie mit Füßen getreten. „Insofern weiß ich mit Blick auf unsere Zeit keinen zeitgemäßeren Gedankenstifter als Luther.“

Dieser könne den Menschen auch heute noch einiges sagen angesichts Herausforderungen wie Terror, Vertreibung oder der Entstehung der künstlichen Intelligenz. „Vielleicht kann Luther uns helfen, den Weg der Freiheit weiterzugehen“, sagt Leibinger-Kammüller. „Vielleicht könnten wir mit Luther etwas anthropologischen Optimismus haben und sagen: Auch das werden die Menschen hinbekommen. Mit Mut. Mit Energie. Mit Visionen. Mit Liebe. Mit Gottvertrauen.“ Nur durch dieses Gottvertrauen sei Luther einer „der ganz großen Helden der Weltgeschichte“ geworden.

Keiner kannte die Predigt

Über die vielen Zuhörer zeigt sich auch Leibinger-Kammüller so überrascht wie erfreut. „Eine volle Kirche ist herrlich“, sagt sie später – obwohl ihr beim Anblick „Angst und Bange“ geworden sei. „Ich bin es gewohnt, Reden zu halten. Die geistliche Dimension ist aber eine andere Dimension.“ Über Monate habe sie sich mit der Predigt beschäftigt. Hat sie vor der Familie geprobt? Leibinger-Kammüller schüttelt den Kopf. „Keiner kannte die Predigt. Ich habe mich nur mit meinem Kommunikationschef ausgetauscht.“ Sie fände es schön, wenn die Kirche öfter so gut besucht wäre wie am Reformationstag. „Die Gemeinschaft, die man erfährt, ist wichtig zur Stärkung des Glaubens.“

Die Predigt der Trumpf-Chefin schließt das Buch „Reformation heute – Kanzelreden von 1998 bis 2017“ der Matthäusgemeinde. „Wir haben jedes Jahr eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens gefunden, die den Bibeltext des jeweiligen Reformationstags ausgelegt und dazu gepredigt hat“, sagt die Kirchengemeinderatsvorsitzende Angelika Schnell-Herb. 1998 hat Leibinger-Kammüllers Vater Berthold Leibinger den Auftakt der Reihe aus insgesamt 20 Laienpredigten gemacht, die nun als Buch erschienen sind. Geht es nach Schnell-Herb, stehen auch die nächsten 20 Jahre Laienprediger am Reformationstag auf der Kanzel. „Damit wird sichtbar, dass evangelische Christen in verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft präsent sind“, sagt Schnell-Herb.

Die dunkle Seite des Reformators

Und wie der Zufall es will, ist jener Berthold Leibinger am Dienstag eingeladen, ebenfalls über die Reformation zu sprechen – nicht in einer Kirche, sondern im Bürgersaal in Ditzingen. Und auch dort wird es voll. So voll, dass die Feierlichkeiten zum Reformationsjubiläum mit Verspätung beginnen, weil die Helfer immer mehr Stühle in den Saal tragen müssen. Allein: Berthold Leibinger fehlt dann doch. Aus gesundheitlichen Gründen („nichts Ernstes“) habe sein Vater absagen müssen, erklärt Peter Leibinger, der Bruder von Nicola Leibinger-Kammüller und stellvertretende Vorsitzende der Trumpf-Geschäftsführung. Er hält dann den Impulsvortrag, den sein Vater ausgearbeitet hat – und der sich der Frage widmet, warum die Reformation überhaupt gelingen konnte.

Der Buchdruck, das neue Denken der Renaissance, die allgemeine Unzufriedenheit mit der Kirche: Das seien wichtige Faktoren gewesen, so Leibinger. Auch er stellt Luther ins Zentrum, der mit seiner Sprachgewalt und „als herausragende intellektuelle Persönlichkeit“ Erstaunliches geleistet habe. Berthold Leibinger unterschlägt in dem Vortrag, den sein Sohn für ihn hält, aber auch die dunklen und groben Seiten des Reformators nicht, seinen Antisemitismus. Oft werde dies damit zu erklären versucht, dass Luther ein Kind seiner Zeit gewesen sei. Er sei aber gerade ein Mensch gewesen, der das Denken seiner Zeit und Zeitgenossen in vielen Punkten infrage gestellt habe. „Der Judenhass ist nicht hinnehmbar – und man hätte hoffen dürfen, dass er auch diesen überwindet.“