Paul-Ludwig U. im Gerichtsverfahren um die Gruppe S.: früher bereits Ermittler mit denselben Anschuldigungen belogen? Foto: dpa/dpa

Der Kronzeuge im Rechtsterrorverfahren um die Gruppe S., Paul-Ludwig U., soll der Polizei bereits im April 2019 dieselben Lügen wortgleich aufgetischt haben, mit denen er später seine Kumpane im aktuellen Verfahren belastete. Zudem werfen frühere Ermittlungen um den Besitz kinderpornografischen Materials Fragen auf.

Stuttgart - Ergreift Werner Siebers in der Stammheimer Außenstelle des Stuttgarter Oberlandesgerichtes einmal das Wort, ist ihm die Aufmerksamkeit der Juristen, Angeklagten und Besucher im Saal gewiss: Von etlichen Kollegen wird der 66-jährige mit den schulterlangen, schlohweißen Haaren „Kantholz“ genannt. Warum, dass unterstreicht der Beweisantrag, den der Strafverteidiger vor der Herbstpause in das Verfahren um die mutmaßliche Rechtsterrorgruppe S. einbrachte. Die zwölf Angeklagten, so ist der Generalbundesanwalt überzeugt, sollen geplant haben, Moscheen in Deutschland anzugreifen, um so einen Bürgerkrieg anzuzetteln und letztendlich die Bundesregierung zu stürzen. Siebers vertritt Werner S., den die Ankläger für den Kopf des vermeintlichen Terrordutzends hält.

Dem waren die Ermittler des Landeskriminalamtes auf die Spur gekommen, weil sich einer aus ihrer Mitte, Paul-Ludwig U., den Kriminalen anvertraute. Oder, wie Siebers ausführt, sie mit erfundenen und erlogenen Informationen fütterte. Bei U., so trug der streitbare Jurist vor, handele es sich um einen „aufbauschenden Lügner, der zur Erlangung eigener Vorteile wie der Bezahlung durch die Ermittlungsbehörden oder der Übernahme in den ihm als Lebensziel vorschwebenden Zeugenschutz angebliche Tatsachen erfand“. Der Belastungszeuge, selbst ebenfalls angeklagt, soll von den Ermittlern Geld für seine Dienste bekommen haben, wie er in einer Vernehmung einräumte. 100 Euro die Woche. Zudem, so prahlte er vor Bewährungshelfer, Liebhaber und Bekannten, versorge ihn das LKA mit Details aus den Ermittlungen und über die weiteren Pläne der Polizei. Unklar ist bis heute, ob er das LKA ihm Aufträge gab, die U. dann abarbeitete.

Handelte U. auf Anweisung der Ermittlungsbehörden?

Um in diese Situation Licht zu bringen, will der Anwalt aus Braunschweig zwei Kriminale aus Heilbronn sowie einen aus Würzberg im Gerichtssaal vernommen wissen. „Die Zeugen werden auch bestätigen, dass ohne erkennbaren Anlass und ohne dass das von U. nachgefragt wurde, fast wortgleich wie beinahe schon gebetsmühlenartig auch im hiesigen Verfahren aktenkundig gemacht wurde, dass U. angeblich keinen Auftrag von der Polizei oder anderen Ermittlungsbehörden habe und ausschließlich nach eigener Entscheidung seine Recherchen betreibe“, ist Siebers überzeugt.

Dem Ermittlungstrio, so zeigen es Ermittlungsakten eines anderen Verfahrens, hatte sich U. bereits im April 2019 – also fast drei Monate vor einem ersten Treffen Einzelner der Gruppe S. in Thüringen – „ähnlich einseitig aufdrängend wie im hiesigen Verfahren“ aufgezwungen. „Fast wortgleich“ habe U. behauptet, „sich in kürzester Zeit in eine Vertrauensstellung bei rechtsradikalen Personen geredet zu haben“. Diese hätten ihm offenbart, sie wollten „etwas gewaltsam gegen Moscheen machen“, um so einen Bürgerkrieg und den Sturz des Systems zu provozieren. Die Ermittlungsverfahren gegen die von U. damals Beschuldigten wurden eingestellt – auch weil bei Durchsuchungen keine Beweise für die Anschuldigungen des denunzierenden U. gefunden wurden.

Zwei Geiselnahmen und 21 Jahre Haft

Ähnlich wie die früheren Ermittler hatte im Mai 2019 auch U.s Bewährungshelferin ihre Gespräche mit ihrem Mandanten in einem Aktenvermerk zusammengefasst – und damit ebenfalls vor ersten Treffen Einzelner aus der Gruppe S..

Seit jetzt 38 Prozesstagen tritt der Hang U.s, andere Menschen zu belasten, immer deutlicher zutage – nach der Verbüßung von 21 Jahren Haft und gerichtlich angeordneten Unterbringen in der geschlossenen Psychiatrie. Der heute 49-jährige war für schuldig befunden worden, 1996 nach einem Raubüberfall einen Polizisten als Geisel genommen zu haben. 2002 nahm er in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik zwei Pflegekräfte als Geisel. Psychiater bescheinigten ihm eine emotional-instabile Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ. Zudem hoben sie sein stark manipulatives Vorgehen mehrfach in ihren Gutachten hervor. Trotzdem hielten sie ihn für schuldfähig.

Kinderpornografisches Material

Kurz nach seiner Entlassung 2017 aus der Haft entlassen, erstattete er im November 2018 spät abends beim Polizeipräsidium Aachen Anzeige gegen den Besitzer kinderpornografischer Bilder. Wie auch bei der Gruppe S. hatte U. das Vertrauen dieses Mannes über Facebook erschlichen. Für das Gerichtsverfahren gegen den inzwischen verurteilten Pädophilen in diesem Sommer in Köln war U. als Zeuge nicht geladen worden. So wurde auch nicht geklärt, ob und gegebenenfalls welches kinderpornografische Material U. mit ihm austauschte. Damit hätte U. – wie auch im aktuellen Fall um die Gruppe S. – auch im Aachener Verfahren Straftaten begangen, um nach seiner Einschätzung Straffällige zu überführen. Der damals zuständige Ermittler hielt fest, U. sei ein „komischer und schlüpfriger Typ“, sein Bauchgefühl sage ihm, er gehöre eher selbst zur Szene der pädophilen Straftäter.

Ein Eindruck, der dadurch gestützt wird, das bei einer Durchsuchung von U.s Wohnung im Februar 2020 kinderpornografisches Material auf seinem Laptop gefunden wurde. Das Verfahren dazu wurde bereits eingestellt.

In Stammheim wird der Prozess um die Gruppe S. am morgigen Dienstag, 9. November 2021 ab 9 Uhr fortgesetzt.