Als sie selbst ein Kind verlor, merkte Natascha Sagorski: Frauen, die Fehlgeburten haben, haben kaum Rechte. Ein Gespräch darüber, wie sie lernte, mit dem Verlust zu leben und wofür sie nun unter anderem vor dem Bundesverfassungsgericht kämpft.
„Ich finde leider keinen Herzschlag mehr“ – sagte der Arzt zu Natascha Sagorski in der 10. Woche ihrer Schwangerschaft. Für die gebürtige Karlsruherin war die Fehlgeburt nicht nur persönlich eine tiefe Verletzung. Sie merkte auch: Betroffene Frauen haben kaum Rechte, wie Ärzte und Kliniken reagieren, ist sehr unterschiedlich. Ein Gespräch über ihre Trauer um das tote Kind, was ihr geholfen hat und wofür sie nun mit anderen Frauen vor dem Bundesverfassungsgericht kämpft.
Frau Sagorski, erzählen Sie bitte von dem Moment, in dem erfahren haben, dass Ihr Kind nicht mehr lebt.
Sagorski: Ich bin zwischen zwei Arbeitsterminen in die Arztpraxis zum Ultraschall. Ich fühlte mich damals sehr schwanger, mein Bauch hatte angefangen zu wachsen, mir war ständig übel. Vor dem Ultraschall habe ich den Mutterpass bekommen, ich sprach mit meinem Arzt über mögliche Kliniken für die Entbindung. Dann sagte er aber sehr schnell: „Das sieht nicht gut aus. Ich kann leider keinen Herzschlag mehr finden.“ Mir sind sofort die Tränen in die Augen geschossen, ich konnte gar nicht mehr sprechen. Diese Sprachlosigkeit blieb lange. Schlimm waren die Erfahrungen in der Klinik.
Warum?
Sagorski: Ich habe mich nach Rücksprache mit meinem Arzt für eine Ausschabung entschieden, denn ich wollte aus diesem für mich unerträglichen Zustand, mein totes Baby im Bauch zu tragen, schnell heraus. Heute, mit der Erfahrung von zwei Geburten, würde ich es anders machen und warten, bis der Körper den Embryo von selbst zur Welt bringt. Ich war am nächsten Tag um halb sieben nüchtern in der Klinik – und wartete bis abends um 18 Uhr auf die Ausschabung. Das war der längste Tag meines Lebens. Ich lag mit mehreren Frauen im Zimmer, die Krankenschwester berichtete von erfolgreichen Geburten, der Treppenaufgang hing voller Großaufnahmen von Neugeborenen. Für Kliniken gibt es keine Leitlinien, wie mit Frauen, die Fehlgeburten haben, umgegangen werden muss.
Aber es gibt doch mittlerweile so genannte stille Kreißsäle für betroffene Frauen und Gräber für die so genannten Sternenkinder.
Sagorski: Manche Kliniken sind sehr vorbildlich, klären auch darüber auf, dass der Frau danach eine Hebamme zusteht und es Möglichkeiten der Beerdigung gibt. Mir wurde all das zum Beispiel nicht gesagt. Aktuell ist es eben Glückssache, je nachdem, wohin man kommt. Auch, ob man danach krank geschrieben wird.
Das geht nicht automatisch?
Sagorski: Ich hatte nach der Ausschabung große Schmerzen und blutete stark. Aber die Klinikärztin sagte „Eine Krankschreibung brauchen Sie nicht, Sie können morgen wieder arbeiten.“ Das hat mir suggeriert: „Jetzt stell dich mal nicht so an, du musst wieder funktionieren.“ Mein Mann hat dann unseren Hausarzt angerufen, der mich krank schrieb. Ich hatte das vorher so noch nie erlebt: Ich war in einem tiefen Loch, ich hätte nicht arbeiten können. Es kann doch nicht sein, dass das vom Ermessen des Arztes abhängt.
Sie kämpfen um einen gestaffelten Mutterschutz nach Fehlgeburten.
Sagorski: Momentan steht nur Frauen, die ab der 24. Schwangerschaftswoche eine Totgeburt haben, 18 Wochen Mutterschutz zu. Davor bekommen sie keinen. Durch den Kontakt mit Sternenkind München, die Familien nach Tod- und Fehlgeburten betreuen, bin ich auf das Konzept des gestaffelten Mutterschutzes gestoßen und habe eine Petition ins Leben gerufen, die mehr als 50 000 Unterschriften erhalten hat. Gestaffelter Mutterschutz bedeutet, dass der Betroffenen umso länger Mutterschutz zusteht, je weiter die Schwangerschaft fortgeschritten war. Die Ampel-Koalition will zwar die Grenze für den Mutterschutz auf die 20. Woche senken, aber das löst das Problem nicht, dass Frauen an einem Tag null Mutterschutz zusteht und am nächsten Tag 18 Monate.
Sie haben mit anderen den „Verein für Feministische Innenpolitik“ gegründet und mit vier Betroffenen Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht. Mit welchen Argumenten?
Sagorski: Nach Ansicht unseres Anwalts Remo Klinger ist die jetzige Regelung verfassungswidrig. Ein Argument ist, dass der Gesetzgeber durchaus in anderer Hinsicht einen Schutzbedarf von Frauen sieht: Zum Beispiel haben sie bereits ab der 12. Schwangerschaftswoche einen Kündigungsschutz.
Hat Ihre Petition politisch etwas bewirkt?
Sagorski: Ein großer Erfolg für uns ist, dass es im Frühjahr ein Fachgespräch zu dem Thema im Familien- und Gesundheitsausschuss des Bundestages geben wird – ein Erfolg meiner Gespräche mit den zuständigen Politikerinnen und Politikern, unter anderem mit der baden-württembergischen Abgeordneten Leni Breymaier. Das ist das erste Mal, dass ein Gremium des Bundestages über Mutterschutz und Fehlgeburten spricht. Ich hoffe auf einen Gesetzesentwurf zum gestaffelten Mutterschutz im Herbst. Aber auch in der Medizin muss sich etwas ändern.
Was?
Sagorski: Wir haben in Deutschland eine hohe Ausschabungsrate, dabei ist das gar nicht immer notwendig. Man kann auch Medikamente nehmen und darauf warten, dass der Körper das Kind zur Welt bringt. In Schweden oder Österreich beispielsweise wird viel seltener ausgeschabt. In Deutschland lernen Medizinstudierende, dass die so genannte Kürettage der beste Weg ist.
Wie lange haben Sie gebraucht, den Verlust zu verarbeiten?
Sagorski: Ich war wirklich lange sprachlos, ich konnte nicht mal mit meiner Mutter sprechen, mit der ich sonst jeden Tag telefoniere. Mein Mann war der einzige, dem ich mich nah gefühlt habe, weil er ja auch unser Baby verloren hat. Wir haben getrauert, sind viel spazieren gegangen. Ich habe auch lange noch geblutet und war einfach schwach. Geholfen haben mir Geschichten von Frauen im Internet, die das auch erlebt haben und wieder glücklich waren. Das hat mich motiviert, selbst ein Buch zu schreiben. In „Jede 3. Frau“ habe ich die Geschichten von Frauen aufgeschrieben und wie sie ihren Weg trotz Fehlgeburt gefunden haben. So habe ich gemerkt, dass so viele Frauen betroffen sind. Fehlgeburten finden um einen herum ständig statt, aber es spricht kaum jemand darüber.
Warum ist das ein Tabu?
Sagorski: Viele schämen sich. Ich hatte auch das Gefühl, ich bin die einzige, die es nicht geschafft hat, die versagt hat. Und natürlich gibt es auch diese Angst, vielleicht nie ein Kind austragen zu können. Dabei werden 85 Prozent der Frauen nach einer Fehlgeburt wieder schwanger. Es müsste viel mehr über das Thema aufgeklärt werden.
Wo?
Sagorski: Schon in den Schulen. Wenn das Thema Schwangerschaft und Verhütung behandelt wird, müsste den Schülerinnen und Schülern auch erklärt werden, wie häufig und normal eine Fehlgeburt ist. Und dass es nicht die Schuld der Frau ist. Auch die Frauenärztinnen und -ärzte müssten mit den Patientinnen am Anfang der Schwangerschaft darüber sprechen. Mir sagte danach mein Arzt: 60 Prozent der Erstgebärenden, die er betreut, hätten eine Fehlgeburt. So eine Information hätte ich vorher gern gehabt. Aber es ist auch deshalb ein Tabu, weil niemand die Frauen darauf anspricht. Manche haben mir erzählt, dass sie schon in der 20. Woche waren, nach einer Fehlgeburt wieder ins Büro kamen und keiner die Schwangerschaft nochmal erwähnte.
Das ist doch aber sicher eher Unsicherheit als Unsensibilität.
Sagorski: Mit Sicherheit, aber viele Frauen sagen, sie wollen nicht so tun als sei nichts geschehen. Sie waren ja schwanger, da war ein Kind. Als ich bei der Arbeit von meiner Fehlgeburt erzählt habe, stand am nächsten Tag eine weiße Lilie auf meinem Schreibtisch. Das war ein wunderbares Gesprächsangebot, das ich annehmen konnte oder nicht.
Welche Geschichte, die Sie gesammelt haben, hat Sie besonders beschäftigt?
Sagorski: Zum Beispiel die von Maria. Als sie die Fehlgeburt hatte, nahm der Arzt einfach den Embryo und warf ihn in den Müll. Das hat Maria sehr beschädigt. Mir hat es gezeigt, wie wichtig es ist, dass Ärzte und Ärztinnen sensibel mit den Frauen umgehen. Oder der Fall von Ines, die danach nicht mehr schwanger wurde. Sie ist jetzt über 50 und das beschäftigt sie immer noch. Aber sie sagt auch: „Dieses Flackern auf dem Ultraschall, das war so ein Glücksgefühl, dass da ein Herz in mir schlägt. Allein für dieses Glücksgefühl bin ich heute noch dankbar.“
Sie wurden vier Monate nach der Fehlgeburt wieder schwanger. Wie groß war die Angst vor einer weiteren Fehlgeburt?
Sagorski: Bis zum zweiten Ultraschalltermin wahnsinnig groß. Das war mein absoluter Angsttermin. Danach legte sich die Panik und das Vertrauen in den Körper kam zurück.
Mittlerweile haben Sie zwei Kinder. Welche Rolle spielt das tote Kind im Familienleben?
Sagorski: Wenn mich jemand fragt, wie viele Kinder ich habe, sage ich, dass ich zwei Kinder habe, aber eigentlich noch ein drittes. Der errechnete Geburtstermin des Babys war der 14. Februar. Wir zünden an diesem Tag ein Herz aus Kerzen im Garten an und setzen uns mit den beiden Kindern ans Fenster. Wir haben ihnen gesagt, dass das Geschwisterkind im Himmel ihr Schutzengel ist, der auf sie aufpasst. Wir weinen dann auch gemeinsam, es ist mir wichtig, dass meine Kinder lernen, mit Trauer und Verlust umzugehen.
Natascha Sagorski
Karlsruherin
Natascha Sagorski (38) wächst in Karlsruhe auf. Sie studiert Politik- und Kommunikationswissenschaft und arbeitet im Anschluss als Kolumnistin und Moderatorin für verschiedene Magazine. Sie veröffentlichte mehrere erzählende Sachbücher sowie zwei Romane. Heute lebt sie mit Mann und zwei Kindern in München.
Engagement
Durch ihre eigene Fehlgeburt kam sie auf die Idee, Geschichten von Menschen zu sammeln, die Ähnliches erlebt haben. Daraus entstand das Buch „Jede 3. Frau“ (Komplett-Media, 18 Euro). Als PR-Beraterin im Tourismus bereist sie heute die ganze Welt und setzt sich politisch für die Rechte von Frauen nach Fehlgeburten ein.