Mišel Matičević im Sechsteiler „Oktoberfest 1900“: Die Zuschauer können das komplette Werk bereits eine Woche vor Beginn der TV-Ausstrahlung online sehen. Foto: dpa/Dusan Martincek

Netflix hat unsere Ansprüche an den TV-Komfort verändert und unsere Sehgewohnheiten. Die ARD reagiert. Mehr und mehr soll ihre Mediathek konkurrenzfähiger Streamingdienst werden. Der nächste Schritt: Online-Premieren der Sahnestücke.

Stuttgart - Wie sah es wohl aus, das Münchner Oktoberfest im Kaiserreich von einst? Und wie die wilhelminische Gesellschaft drum herum in ihrem preußenfernen bajuwarischen Stolz? Die ARD will es uns zeigen, mit ihrem großen Sechsteiler „Oktoberfest 1900“. Der ist ein echter Kraftakt der ARD, und in anderen Zeiten hätte man gehofft, dass so ein TV-Event sich Sendetag um Sendetag als Straßenfeger entpuppen würde. Damals saßen die Deutschen bei Fernsehgroßereignissen ja tatsächlich noch fast vollzählig daheim vor den Apparaten wie Mönche in der Vespermesse.

Volker Herres, der Programmdirektor des Ersten Deutschen Fernsehens, preist „Oktoberfest 1900“ denn auch vollmundig an. Hier sei eine Serie entstanden, schwärmt er, die „internationalen Standards genügt. Solche großen Projekte können nur als Gemeinschaftsproduktion realisiert werden.“ Mit anderen Worten: Hier will der dauerhaft in der Kritik stehende, im Bereich der fiktionalen Unterhaltung von vielen Konkurrenten bedrängte öffentlich-rechtliche Apparat zeigen, was er kann.

Streaming ist Trumpf

Vor gar nicht langer Zeit wäre die Premiere von „Oktoberfest 1900“ darum automatisch auch eine Muskelpräsentation des linearen Systems gewesen. Man hätte beweisen wollen, dass man sich vor dem Konkurrenzmodell namens Streaming nicht verstecken muss, dass man immer noch viele Millionen Zuschauer zu einer genau definierten Zeit vor die Mattscheibe locken und dem eigenen Programmrhythmus unterwerfen kann. Nun aber verkündet dieses ARD-Event das Gegenteil: Streaming ist Trumpf.

Am 15. September sind im Ersten Teil eins und zwei von „Oktoberfest 1900“ zu sehen, am Tag darauf Teil 3 und 4, eine Woche später Teil fünf und sechs – aber bereits ab 8. September stehen alle sechs Teile in der ARD-Mediathek zum Abruf bereit. Zu den weiteren Highlights des Herbst-Winter-Programms des Ersten, für die Online-zuerst-Premieren geplant sind, gehören die Neuauflage des Kinderserienklassikers „Pan Tau“, die dritte Staffel von „Babylon Berlin“, „Das Geheimnis des Totenwaldes“ und die dritte Staffel der Serie „Charité“.

Heftige Erschütterungen

Deutlicher könnte man kaum signalisieren, dass die lineare Verbreitungsform nun auch beim öffentlich-rechtlichen Schwergewicht ARD auf den zweiten Rang rückt. Damit aber wirklich kein Raum zum Missverstehen bleibt, fasst es Jörg Schönenborn, der zuständige ARD-Koordinator für Fiktionsprogramme, auch noch in klare Worte: „Mit ‚Oktoberfest 1900‘ und vielen weiteren Serien in den kommenden Monaten bespielen wir erstmals durchgängig zuerst die ARD-Mediathek und dann unsere linearen Ausspielwege im Ersten, in den Dritten Programmen und auf One. Ich freue mich über die Qualität und die Bandbreite der fiktionalen Angebote, mit denen wir die Attraktivität der ARD Mediathek nachhaltig stärken und zeigen wollen, dass wir es im non-linearen Wettbewerb ernst meinen: Wir denken nicht länger zuerst in linearen Sendeplätzen, sondern konsequent zuerst in Inhalten und Projekten – ein Paradigmenwechsel für die ARD.“

Der wuchtige Begriff Paradigmenwechsel wurde gewiss mit Bedacht gewählt. Das öffentlich-rechtliche System musste zwar schon die heftige Erschütterung durch den Start der privaten Konkurrenz 1984 überstehen. Das Publikum lief in Scharen über, ganze Altersgruppen gingen fast komplett verloren. Aber das System der Gebührenfinanzierung hielt zumindest das Bezahlfernsehen in Schach. Die Deutschen zeigten lange wenig Lust, für Fernsehen noch einmal Geld auszugeben, wo sie doch schon ARD, ZDF, Arte und diverse Ableger finanzieren mussten.

Der Markt von morgen

Seit dem Eintritt von Netflix in den deutschen Markt im September 2014 hat sich das rapide geändert. Der Streamingmarkt boomt, immer neue Anbieter tauchen auf, und eine neue Erhebung hat gerade mit der Zahl erstaunt, dass bereits die Hälfte der deutschen Haushalte regelmäßig einen Bezahldienst nutzt. Bei ARD und ZDF hat man diese Entwicklung begriffen.

Die Mediatheken werden schon länger nicht mehr als Nachholservice für jene positioniert, die eine lineare Sendung verpasst haben, sondern als Streamingdienst. Nun geht man den nächsten Schritt und bestückt diese Mediatheken noch vor dem linearen Start mit den attraktivsten Premieren, die man zu bieten hat. Denn der fiktionale TV-Markt von morgen wird auf jeden Fall ein online-basierter Abrufmarkt sein. Das lineare Programm schwindet mit einer älteren Generation, die darauf noch sozialisiert wurde, allmählich dahin.