Im Südwesten kann bei einer Menge von bis zu sechs Gramm von einer Strafverfolgung abgesehen werden. Foto: Fotolia

Freigabe von Cannabis? Ein Reizthema, das neu diskutiert wird – mit überraschenden Akzenten. So spricht sich das für Suchtmedizin zuständige Vorstandsmitglied der Landesärztekammer für eine Legalisierung der Droge aus.

Stuttgart - Der Vorsitzende des Ausschusses Suchtmedizin der Landesärztekammer, Christoph von Ascheraden, gab sich als klarer Befürworter von Platzverboten zur Bekämpfung von Alkoholexzessen zu erkennen: „Ich bedaure es, dass die Politik in Baden-Württemberg sich nicht dazu durchringen kann“, sagte er dieser Tage auf einer Tagung des Landesärztetages zum Thema Jugendliche Sucht und Gewalt in Stuttgart.

Bei einem anderen Thema schlug von Ascheraden bemerkenswert liberale Töne an: „Ist es sinnvoll, dass sich Polizei und Justiz in dem bisherigen Umfang auf Cannabis stürzen? Wäre es nicht sinnvoller zu sagen: Unsere Ressourcen sind endlich?“ Zur Verdeutlichung zitierte er Zahlen des Bundes Deutscher Kriminalbeamter: Bundesweit entfielen im vergangenen Jahr 148 000 von 250 000 Drogen-Strafverfahren auf Cannabis. „Die Ermittler stöhnen unter dieser Last“, sagt von Ascheraden. Zumal die meisten Verfahren wegen Besitzes und Konsums eingestellt würden.

Ähnlich argumentiert der Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Rainer Wendt. In einem Gastbeitrag für „Focus“ schrieb er jetzt, Tausende Polizisten würden falsch eingesetzt – etwa bei der Verfolgung von Cannabis-Konsumenten. „Es wäre besser, den Konsum geringer Mengen von Cannabis nicht mehr verfolgen zu müssen – um sinnlose Bürokratie zu vermeiden.“

Dazu passt ein Vorstoß von 122 deutschen Strafrechtsprofessoren aus diesem Jahr, in dem sie den Bundestag aufforderten, eine Enquete-Kommission einzurichten, die sich des Themas annehmen soll. Sie selbst sind der Meinung: „Die strafrechtliche Drogenprohibition ist gescheitert, sozialschädlich und unökonomisch.“ Die repressive Cannabis-Politik fördere die organisierte Kriminalität und behindere eine angemessene medizinische Versorgung. „Jedes Jahr werden Milliardenbeträge für die Strafverfolgung aufgewendet, welche sinnvoller für die Prävention und Gesundheitsfürsorge eingesetzt werden könnten“, schreiben die Professoren. Zuletzt sprachen sich in der vergangenen Woche auf einer Fachtagung in Frankfurt Vertreter von Polizei, Wissenschaft und Medizin für eine Legalisierung aus.

Diese Debatte hat nun auch Baden-Württemberg erreicht. Im Gespräch mit unserer Zeitung warb der Vorsitzende des Arbeitskreises Suchtmedizin der Landesärztekammer offensiv dafür, „über den Ist-Zustand nachzudenken“. Schon deshalb, weil von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Mengen-Beschränkungen für Konsumenten gelten würden. In Baden-Württemberg kann bei einer Menge von bis zu sechs Gramm von einer Strafverfolgung abgesehen werden. Zum Vergleich: In Rheinland-Pfalz liegt die Grenze bei zehn Gramm. Von Ascheroden nennt dies einen „Skandal“.

Die Kritik des Mediziners geht jedoch tiefer. Aus seiner Sicht sind die Argumente, die von verschiedenen Seiten gegen die Fortsetzung einer repressiven Cannabis-Politik vorgetragen werden, „so gravierend, dass sich daraus die Notwendigkeit eines breiten gesellschaftlichen Diskussionsprozesses ergibt“. Es gehe um die Frage: „Wollen wir an der jetzigen Regelung mit all ihren Unzulänglichkeiten festhalten, oder wollen wir den Schritt wagen, an einem Punkt eine Droge aus dem illegalen Sektor herauszuholen?“

Von Ascheraden plädiert für Letzteres. Er ist für eine „Legalisierung unter Auflagen“. Es müssten dann entsprechende Regularien geschaffen werden – etwa die Einrichtung sogenannter Coffee-Shops zum Vertrieb von Cannabis.

Damit geht er deutlich über die bisherige Position der Landesärztekammer hinaus, die eine Cannabis-Abgabe nur im medizinisch gebotenen Einzelfall befürwortet. Es handle sich um eine neue Debatte, angestoßen durch die Tagung in Frankfurt, argumentiert von Ascheraden, der auch Vorstandsmitglied der Landesärztekammer ist. Seine Prognose: Der Trend gehe langfristig zur Legalisierung: „Es bröckelt auf breiter Front.“ Auch bis zur Akzeptanz der Abgabe von Methadon habe es Jahre gedauert.

Von Ascheraden, der selbst Drogen-Patienten betreut, hält eine Freigabe auch unter medizinischen Aspekten für vertretbar: „Cannabis erfährt immer noch eine mystische Überbewertung.“ Natürlich gebe es Gesundheitsgefahren. Diese seien aber nicht höher als die von Alkohol oder Nikotin. Bei nur etwa drei Prozent der Nutzer könnten sich schwerwiegende gesundheitliche Folgen ergeben. „97 Prozent der Nutzer verlassen den Cannabis-Bereich wieder – mehr als Raucher.“ Der Mediziner lehnt es daher ab, Cannabis als Einstiegsdroge zu bezeichnen: „Pharmakologisch ist dies nicht haltbar.“ Allenfalls in sozialer Hinsicht könne man davon sprechen, weil Personen, die sich illegal Cannabis beschafften, oft auch mit anderen Drogen in Kontakt kämen.

Der Geschäftsführer der Drogenberatungsstelle Release in Stuttgart, Ulrich Binder, sieht das anders. Der Wirkstoffgehalt von Cannabis habe sich immer weiter erhöht. Dauerhafter Konsum könne zu Psychosen führen: „Man darf Cannabis auf keinen Fall verharmlosen.“ Eine generelle Freigabe lehnt der Release-Geschäftsführer ab – die Droge würde sonst genauso beworben wie Alkohol. Doch auch Binder plädiert für eine breite gesellschaftliche Debatte. Man müsse darüber nachdenken, ob das Betäubungsmittelgesetz der geeignete rechtliche Rahmen sei. „Die entscheidende Frage ist: Wie kann man Menschen erreichen und bei ihnen ein Nachdenken über den Umgang mit der Droge auslösen?“

Gegen eine Legalisierung ist auch der GdP-Landesvorsitzende Rüdiger Seidenspinner: „Cannabis ist eine Einstiegsdroge. Wir müssen weiter den Weg der Strafverfolgung gehen, auch wenn er für die Polizei mühsam ist“, erklärte er – in Abgrenzung zum GdP-Bundesvorsitzenden.

Auf der politischen Ebene erteilt Innenminister Reinhold Gall (SPD) einer Änderung des Betäubungsmittelrechts eine Absage: „Ich bin kein Freund der Legalisierung“, sagte er in Stuttgart – im Gegensatz zu den Grünen. „Ich begrüße sehr, dass die gesellschaftliche Debatte über die Legalisierung an Fahrt gewinnt“, sagte der Grünen-Landesvorsitzende Oliver Hildenbrand auf Anfrage. „Durch eine Entkriminalisierung von Konsumenten würde der Blick frei auf die Themen, die im Vordergrund stehen müssen: Jugendschutz, Aufklärung und Prävention.“

In den grün-roten Koalitionsvertrag hatte die Grünen-Forderung allerdings keinen Eingang gefunden.