Das Bild der Erde im Weltraum – hier vom Mond aus gesehen – hat nicht nur bei vielen Astronauten ehrfurchtsvolles Staunen ausgelöst. Foto: Nasa

ESA-Generaldirektor Johann Dietrich Wörner wirbt für eine gemeinsame Raumstation auf dem Mond. Sie könnte die ISS ablösen und zugleich einen wichtigen Beitrag zur Völkerverständigung leisten.

Flensburg - Professor Johann-Dietrich Wörner steht in einem Vortragssaal und beschleunigt seine Masse. Man könnte auch sagen: Jan springt hoch, denn der Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtagentur Esa hat es gern schnörkellos. Den akademischen Titel lässt er lieber weg, seinen etwas sperrigen deutschen Vornamen Johann-Dietrich, der international verknotete Zungen verursacht, hat er gegen ein schlichtes Jan eingetauscht, und physikalische Begriffe und Gesetze versucht er, so gut es geht, für jeden anschaulich und begreifbar zu machen. Also: Jan springt hoch.

Er tut das, weil er den Zuhörern erklären will, was die Esa macht und warum es so wichtig ist, dass es sie gibt. Gerade ist er bei einem etwas schwierigeren Kapitel angekommen: den Gravitationswellen. „Die entstehen wenn Masse beschleunigt wird. Sie merken das jetzt nicht“, sagt er, nachdem seine Masse wieder sicher auf dem Boden gelandet ist. „Aber wenn ich ein Neutronenstern wäre, würden Sie es merken.“

Neutronensterne besitzen die zwei- bis dreifache Masse der Sonne und sind dabei nicht viel größer als Stuttgart. Sie sind also unheimlich dicht, drehen sich sehr schnell und haben gewaltige magnetische Anziehungskräfte. Von der Masse einmal abgesehen, könnte man Jan Wörner durchaus Ähnlichkeiten mit einem Neutronenstern attestieren. Er fesselt seine Zuhörer und scheint ständig auf Hochtouren zu drehen: Vorträge, Meetings, Konferenzen, Interviews – wo er zu Hause ist, wisse er gar nicht mehr so genau, hat Wörner einmal gesagt.

Suche nach Gravitationswellen

An diesem Abend erzählt er von einem der nächsten großen Esa-Projekte: Bereits 2016 hat die Esa eine Sonde ins Weltall geschickt, um dort die Technik zu erproben, mit der ab 2035 das große Observatorium Lisa Gravitationswellen aufspüren soll. Also Wellen in der Raumzeit, die bisher auf der Erde nur indirekt gemessen werden konnten und im All viel besser einzufangen sind. Im Prinzip geht es dabei immer noch darum, die Relativitätstheorie, die Einstein vor mehr als hundert Jahren zu Papier gebracht hat, in der Praxis zu bestätigen.

Jan Wörner hat den Job als Esa-Generaldirektor vor zwei Jahren übernommen. Er will in seiner Amtszeit nicht nur Projekte wie die Rosetta-Mission, das europäische Satelliten-Programm Galileo oder eben Lisa begleiten und voranbringen, er will diese Dinge auch erden. Er ist ein exzellenter Redner, der den Menschen das All näherbringen und sie neugierig machen möchte. „Es geht immer um Neugier“, sagt er. „Sie hat uns dorthin gebracht, wo wir sind.“

Was eine bessere Messung und Erforschung von Gravitationswellen irgendwann einmal bringen könnte, weiß auch Wörner nicht. Er weiß auch nicht, was wir davon haben werden, wenn wir irgendwann einmal verstehen sollten, wo sich die dunkle Materie und die dunkle Energie verstecken, die rund 95 Prozent des Universums ausmachen. Aber er ist neugierig darauf. Und Neugier, so Wörner, bringt etwas zurück.

Die Venus als mahnendes Beispiel

Die Raumfahrt hat nicht nur Mondgestein und Kometensplitter auf die Erde gebracht, sie hat uns nebenbei auch Rauchmelder, Waldbrandkameras, Navigationsgeräte und moderne Verschlüsselungssysteme beschert. Und dass wir unser Klima aus dem Gleichgewicht bringen, wenn wir zu viel Treibhausgase in die Atmosphäre pusten, hat uns unter anderem auch die Atmosphäre der Venus gelehrt, auf der es mehr als 400 Grad heiß ist.

Überhaupt die Atmosphäre: Es waren die ersten Bilder aus dem Weltall, die auf eindrückliche Weise gezeigt haben, wie unheimlich dünn und verletzlich sie ist. Der Blick von außen schärft die Sicht. Das ist bis heute so. „Wenn der deutsche Astronaut Alexander Gerst diese wunderschönen Fotos von der Erde schickt, dann gibt einem das doch auch das Gefühl, dass wir auf dem richtigen Planeten sind und dass wir gut damit umgehen sollten“, meint Wörner. Dazu würde eigentlich auch gehören, dass wir ihn nicht mit einem Mantel aus Weltraumschrott umgeben. Deshalb hat die Esa ein kleines Aufräummodul entwickelt, um alte Satelliten zurück zur Erde zu bringen.

Dass diese nicht nur Kollisionen im Orbit auslösen, sondern auch auf der Erde zum Problem werden können, zeigte sich an Rosat, einem Satelliten, der 2011 unkontrolliert abstürzte und vielen Verantwortlichen eine unruhige Nacht bescherte. Eigentlich verglühen die meisten Satelliten beim Wiedereintritt in die Atmosphäre. Aber Rosat war so kompakt gebaut, dass nach Berechnungen der Esa auch Trümmer auf der Erde hätten landen können. „Der flog und flog und flog“, erzählt Wörner und fährt auf einer Weltkarte über den Indischen Ozean, wo der Satellit glücklicherweise in den Golf von Bengalen stürzte. Sein Finger fährt ein kleines Stückchen höher: „Hier wäre Peking gewesen.“

Im Weltraum lebt die europäische Idee

Dass ein europäischer Satellit am Ende in China landet, wäre nichts Ungewöhnliches in der Raumfahrt. Ländergrenzen zählen hier kaum etwas. „Aus dem All erkennt man gar keine Grenzen“, berichtet Wörner. Darauf beruht auch seine Vision für Europa. „Ich habe früher noch gelernt, dass die EU nur ein Übergang ist und wir irgendwann die United States of Europe haben werden“, erzählt er. Davon sind wir heute vielleicht weiter entfernt denn je. Aber Wörner kann ein kleines Trostpflaster anbieten: „Bei uns spielen Nationalitäten überhaupt keine Rolle. Wir sind der United Space of Europe.“

Noch etwas weiter geht Wörners zweite große Vision. Während fast alle nur noch vom Mars und den Schwierigkeiten einer bemannten Reise dorthin reden, ruft Wörner fast ein wenig trotzig aus: „Der Mond, der Mond ist doch da!“ Der Esa-Generaldirektor möchte dort gerne ein internationales Dorf errichten, in dem die verschiedenen Raumfahrtnationen zusammenarbeiten. Wenn die Internationale Raumstation ISS in ungefähr zehn Jahren kontrolliert abstürzen und im Meer versinken wird, könnte das Monddorf an ihre Stelle treten.

Hier könnte man vieles üben, was für eine Marsmission unerlässlich wäre: das Auskommen mit begrenzten Ressourcen, das enge Zusammenleben, das Überleben in einer unwirtlichen Umgebung mit hoher Strahlung und starken Temperaturschwankungen. Gleichzeitig könnten Roboter erprobt und die dunkle Seite des Mondes als Standort für neue Teleskope genutzt werden. Und all das in friedlicher Zusammenarbeit unterschiedlichster Nationen. Vielleicht, so seine Hoffnung, könnten solche Projekte nicht nur auf dem Mond, sondern auch auf der Erde etwas mehr Harmonie schaffen.

„Wir suchen immer intelligentes Leben im All, wir sollten erst einmal auf der Erde danach suchen, das macht mir mehr Sorgen“, sagt Wörner. Es sind Sätze wie diese, mit denen er einmal kurz die Unendlichkeit des Universums abfliegt und sofort wieder bei seinen Zuhörern auf der Erde landet.

Frühe Begeisterung für Raketen

Karriere Johann-Dietrich („Jan“) Wörner wurde 1954 in Kassel geboren und hat drei Kinder. Obwohl er schon als Jugendlicher selbst gebaute Raketen im Garten starten ließ, studierte er zunächst Bauingenieurwesen in Berlin und Darmstadt. Für einen Forschungsaufenthalt zur Erdbebensicherheit ging er 1982 nach Japan. 1990 wurde er an die Technische Hochschule in Darmstadt berufen und war dort von 1995 bis 2007 Präsident.

Raumfahrt 2007 übernahm Wörner den Vorstandsvorsitz des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln. Seit Juli 2015 ist er Generaldirektor der Europäischen Raumfahrtorganisation (Esa) in Paris. In Stuttgart war Jan Wörner auch kurze Zeit als Schlichter im Streit über das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 tätig.