Der Bauer Robin Vogelbacher neben seiner verletzten Kuh Annabell Foto: Daniel Keyerleber

Soll man den Wolf zum Abschuss freigeben? Ein Blick in den Südschwarzwald, wo die Lieblingskuh des Bauern Robin Vogelbacher von dem Raubtier attackiert wurde.

Wenn sie wollten, hätten die Kühe von Robin Vogelbacher eine wunderbare Aussicht. Ihre Weide liegt auf einem Plateau im Südschwarzwald, 900 Meter hoch, ein bisschen weiter südlich fällt das Gebirge steil ab zum Rhein. An klaren Tagen sieht man hier die schneebedeckten Schweizer Berge.

 

Aber die Kühe wollen nicht. Drei Dutzend stehen dicht an dicht im offenen Stall. Im Schatten ist es weniger heiß, und es gibt weniger Fliegen. Hilflos schlagen sie mit ihren Schwänzen nach Insekten, die sie piesacken. Annabell hat es besonders schwer. Die schwarz-bunte Holsteiner Kuh geht dem Bauern bis zur Brust. An der linken Hüfte hat sie eine offene Wunde, fleischfarben und so groß wie eine Männerhand. Der Schorf zieht Hunderte von Fliegen an.

Wer hat Annabell so zugerichtet?

„Man soll das ja nicht sagen“, sagt Robin Vogelbacher. Er redet über seine Rinder wie ein Vater, der weiß, dass er alle Kinder gleich lieb haben soll. „Aber die Annabell gehört zu meinen Lieblingstieren, weil sie so zutraulich ist.“ Im November vergangenen Jahres war das Wetter gut, deshalb ließ er die Herde so lange wie möglich auf der Weide. Am letzten Tag, bevor er sie in den Stall holen wollte, wirkte Annabell verstört. „Sie ließ mich nicht mehr an sich ran.“ Er besah die Kuh genauer. Sie hatte Wunden, die wie Schnitte aussahen: an der Kehle, am Euter, am Rücken. Der Bauer fragte sich: „Wer hat meine Kuh so zugerichtet?“ Er holte die Tierärztin. Dann kam aus Freiburg jemand von der Forstlichen Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA), nahm Abstriche und stellte zweifelsfrei fest: Es war weder ein Tiere hassender Mensch noch ein Hund. Es war der Wolf.

Robin Vogelbacher, Jahrgang 1993, hat Agrarwirtschaft studiert. Mit 25 Jahren übernahm er von seinem kinderlosen Onkel den Käppelehof. Er liegt in Tiefenhäusern, einem Ortsteil von Höchenschwand, und befindet sich seit 1723 im Familienbesitz. Der junge Bauer hält 65 Rinder, dazu kommen 1500 Hühner und Masthähnchen, die artgerecht im Freiland leben. Sobald sie das Gras weggescharrt haben, zieht Vogelbacher die mobilen Ställe ein Stück weiter, dann pickt das Federvieh wieder in frischem Grün. Über seine Rinder sagt der Bauer: „Die hält man artgerecht auf der Weide. Aber gilt das noch?“

Den Wolfsangriff hätte er nicht für möglich gehalten. Die Weide, auf der es passiert ist, liegt gerade mal 500 Meter von seinem Hof am Ortsrand entfernt. In der Nähe verläuft die viel befahrene Bundesstraße. Da soll sich der Wolf an ein ausgewachsenes Rind im Herdenverbund trauen?

Eine Lobby für den Wolf

Vogelbacher desinfizierte die Wunden von Annabell mit Blauspray, später behandelte er sie mit Babyöl. Das Tier hat wieder Zutrauen gefasst, lässt sich willig von ihm führen. Aber der Bauer ist nachhaltig verstört. „Bisher hatte ich nichts gegen den Wolf“, sagt er, „jetzt habe ich Angst vor ihm.“ Zudem musste er feststellen, dass unter den Menschen die Wolfsromantiker das große Wort führen. „Wenn ich meine Gefühle äußere, muss ich aufpassen, dass ich keine Angriffsfläche biete. Wenn es um den Wolf geht, ist unsere Gesellschaft abartig gespalten.“

Der Naturschutzbund hat deutschlandweit eine Lobby von 300 Wolfsbotschaftern aufgebaut. Er ruft die Nutztierhalter auf, „sich verstärkt und gemeinsam für die Akzeptanz und den Erhalt des Wolfs einzusetzen“. Er fordert eine offene und transparente Zusammenarbeit von Wissenschaft, Behörden und Jägern – vergisst aber offenbar, die Bauern als Partner in den Dialog einzubeziehen. Ist deren Stimme verzichtbar?

Der böse Wolf in den Märchen

Der Wolf polarisiert wie kein anderes Raubtier. Die Römer prägten das geflügelte Wort: homo homini lupus est – der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Deutsche Märchen stilisierten ihn zum Inbegriff der arglistigen Bestie, die als Großmütterchen getarnt das Rotkäppchen verspeist, die erst Kreide und dann sechs Geißlein frisst. Im 19. Jahrhundert wurde der Wolf in Mitteleuropa ausgerottet, was das Leben der Bauern einfacher machte: Sie mussten Schafe und Ziegen nicht mehr vor dem Beutegreifer schützen.

Die Europäische Union stellte ihn 1992 unter strengen Schutz. Er darf nicht gejagt und keine Region der EU kann zur wolfsfreien Zone erklärt werden. Seit dem Frühjahr 2023 lebt im Schwarzwald wieder ein Rudel. Wer einen Wolf abschießt, wird mit bis zu fünf Jahren Gefängnis bestraft. In Brandenburg, wo die Wolfspopulation bedeutend größer ist, machen Gerüchte die Runde, dass Bauern einen Kadaver im Maishäcksler verschwinden ließen.

Im Jahr 2021 verzeichnete die FVA im Schwarzwald 42 Tiere, die vom Wolf getötet wurden. Die Landesregierung nahm den ganzen Schwarzwald in das Fördergebiet Wolfsprävention auf. Wer hier Schafe, Ziegen oder Rinder hält, bekommt einen Zuschuss zum Bau eines wolfssicheren, mindestens 90 Zentimeter hohen Elektrozauns.

Zäune sind keine Lösung

Der Revierförster Johannes Wiesler aus Bollschweil ist skeptisch: „Mein Schäferhund springt über solche Zäune, warum soll der Wolf das nicht auch lernen?“ Er kennt die tief eingeschnittenen Täler des Schwarzwalds. Wenn ein Bach durch die Weide fließt, wenn diese an einem steilen Hang liegt, ist kein wolfssicherer Zaun möglich. Und dringt das Raubtier in den Pferch ein, gibt es für Schafe oder Ziegen kein Entkommen. Die panisch umherrennende Herde löst beim Wolf immer wieder aufs Neue den Tötungsreflex aus, landläufig Blutrausch genannt.

Außerdem schränken Zäune die Artenvielfalt ein. Wenn das Rotwild nicht mehr auf Wiesen äsen kann, weil diese eingezäunt sind, wird der genetische Austausch zwischen den Tieren eingeschränkt. Und im Wald kommt es zu vermehrtem Verbiss. Der Ökologe Nicolas Schoof von der Universität Freiburg sagt: „Der Wolf ist eher keine gefährdete Tierart mehr. Im Unterschied zu ihm sind Lebensräume wie Heiden in ihrem Bestand gefährdet. Deshalb empfehlen wir, Problemwölfe, die in geschützte Herden eindringen, umgehend abzuschießen.“

Gefahr für den Tourismus?

Auch Meinrad Joos ist kein Freund der Zäune. Er hat 40 Jahre in der Forstverwaltung gearbeitet, seit 2019 ist er Präsident des Schwarzwaldvereins. Er sagt: „Die Offenhaltung der Kulturlandschaft durch Weidetiere hat Vorrang vor dem Schutz eines einzelnen, zuwandernden Tiers.“ Joos betont die Bedeutung, die der Tourismus für die Schwarzwälder hat. Wenn sich Wanderer und Natursportler in einer von Elektrozäunen zerschnittenen Landschaft bewegen, machen sie lieber woanders Urlaub. Deshalb fordert er, den Wolf über das Jagdrecht zum Abschuss freizugeben. „Vertreter aller Parteien im Landtag teilen diese Haltung. Aber das Problem kommt wohl erst nach der nächsten Landtagswahl auf die Tagesordnung. Es sei denn, die Debatte wird dadurch beschleunigt, dass der Wolf in der Nähe von Waldkindergärten gesichtet wird.“

Der Biologe Marcel Züger aus der Schweiz wollte dem Wolf „eine würdige Rückkehr in die alte Heimat ermöglichen“. Diesen Standpunkt vertrat er 1997. Er hielt ihn für ein scheues Tier, das sich von niedrigen Zäunen abhalten lässt und Großvieh aus dem Weg geht. Nach den Erfahrungen mit der wachsenden Population in Graubünden sagt er heute ernüchtert: „Der Wolf ist anders.“

Die zahme Wölfin Gaia

Dieses Tier frisst drei bis fünf Kilo Fleisch am Tag. Als Jäger ist es dem Menschen weit überlegen. Der Wolf kann besser hören und riechen, seine Ausdauer ist größer. In einer Nacht legt er bis zu 70 Kilometer zurück. In eineinhalb Tagen kommt er vom Käppelehof ins Rippoldsauer Tal im Nordschwarzwald.

Dort liegt der Alternative Wolf- und Bärenpark. Hinter stabilen Metallgittern, gesichert von Kameras und Elektrozäunen, können Besucher die Wölfin Gaia besichtigen. Sie wurde in Litauen wie ein Hund im Zwinger gehalten. Jetzt hat sie Auslauf, kann sich im Gebüsch verstecken und im Bach baden, reagiert neugierig auf Menschen und Hunde auf der anderen Seite des Zauns. Ein Schild belehrt die Besucher: „Gaia interagiert mit dir. Ignorier dieses Verhalten und geh normal weiter! So kann sie lernen, sich wie ein Wolf zu verhalten.“ Sabrina Reimann erklärt: „Gaia ist in der Identitätskrise und soll lernen, ein richtiger Wolf zu werden.“ Die Biologin hat Wildtiermanagement studiert, eine Schlange auf ihren Unterarm tätowiert und leitet den Wolfspark.

Wolfskuschler und Wolfshasser

Was meint sie zur Rückkehr des Wolfs? „Wir sitzen zwischen den Stühlen. Auf beiden Seiten gibt es Extremisten – die Wolfskuschler und die Wolfshasser.“ Ihre Maxime: „Alle Beteiligten müssen miteinander reden. Wenn man Jäger oder Tierhalter ausschließt, führt die Debatte zu gar nichts.“ Als im Tal Schafe gerissen wurden, hat der Bauer sie um Rat gebeten. Sie sah, dass die Weide an einigen Stellen kaum durch einen Zaun zu schützen war und empfahl Stromgras – Drahtbüschel, die mit dem Elektrozaun verbunden sind. „Wenn der Wolf eine gewischt kriegt, merkt er sich das und meidet den Ort.“

Eine andere Möglichkeit sind Herdenschutzhunde. Auf dem Windberghof, in einem einsamen Tal zwischen St. Blasien und dem Schluchsee gelegen, bewachen sie Tag und Nacht die Ziegen. Bislang traute sich kein Wolf auf ihre Weide, obwohl das junge Rudel ganz in der Nähe lebt.

Auch Robin Vogelbacher setzt schon auf tierischen Schutz. Seine Freilandhühner lässt er von Alpakas bewachen: „Die rennen nicht weg, sondern zeigen Präsenz. Das reicht schon, um den Fuchs und Raubvögel abzuhalten.“ Wie wär es dann mit Herdenschutzhunden für seine Rinder? Der Käppelehof liegt am Dorfrand: „Wenn die nachts bellen, mache ich mir unter den Nachbarn keine Freunde.“ Gab es denn nach dem Angriff auf Annabell ein Gespräch mit den Wolfsbotschaftern vom Naturschutzbund? „Von denen hat sich niemand gemeldet. Und ich habe den Kontakt auch nicht gesucht. Da driftet die Welt zu weit auseinander.“

Wie entscheidet Brüssel?

Bei der Wolfsdebatte tut sich eine tiefe Kluft auf. Wer in der Großstadt lebe, könne leicht Forderungen nach größerer Artenvielfalt stellen, sagt Robin Vogelbacher. Er dreht den Spieß um: „Wenn ich gefragt werde, ob in Stuttgart alle Autos mit Verbrennungsmotor verboten werden sollen, bin ich dafür. Es betrifft mich ja nicht.“

Weil Tierhalter zwischen der Ostsee und Italien gegen den Wolf protestieren, überlegt die EU, seinen Schutzstatus zu senken. Robin Vogelbacher kann nicht warten, bis Brüssel eine Entscheidung trifft. Am späten Nachmittag setzt er sich auf den Bagger, um Fundamente für einen großen Laufstall zu graben. Später will er noch die Anträge für den wolfssicheren Zaun ausfüllen. Er stöhnt jetzt schon über den bürokratischen Aufwand: „Wenn der Zaun nichts bringt und sich gesellschaftspolitisch nichts ändert, bleibt für meine Rinder nur die Stallhaltung.“