Unterkühlter Händedruck: Viktor Orban (links) bei seinem ersten Besuch bei Wolodymyr Selenskyj in Kiew Foto: AFP/ZOLTAN FISCHER

Von Migration bis Ukraine – die ungarische Ratspräsidentschaft von Viktor Orban verspricht, eine faire Vermittlerin sein zu wollen. Das Programm überzeugt aber nicht alle.

Viktor Orban verliert keine Zeit. Erst einen Tag ist der ungarische Premier Chef des Europäischen Rates und schon packt er ein heißes Eisen an. Zum ersten Mal seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine reiste Orban nach Kiew. Damit setzte er ein überraschendes Zeichen, überbrachte allerdings eine wenig überraschende Botschaft. Er rief den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einer raschen Waffenruhe mit Russland auf, um einen möglichen Friedensprozess zu beschleunigen. Selenskyj hielt dem ungarischen Regierungschef entgegen, sein Land brauche einen „gerechten Frieden“.

 

Schwieriges Verhältnis zur Ukraine

Der Krieg in der Ukraine ist zwangsläufig einer der Schwerpunkte während der sechsmonatigen ungarischen Ratspräsidentschaft – und auch einer der größten Streitpunkte zwischen Ungarn und dem Rest der EU. Zwar benennt das offizielle Programm der Ratspräsidentschaft Russland als „Aggressor“ im Krieg gegen die Ukraine, die ungarische Regierung hat sich bisher aber konsequent gegen die militärische Unterstützung Kiews durch westliche Staaten gestellt. Zur selben Zeit unterhält sie enge wirtschaftliche und auch freundschaftliche Beziehungen mit dem Regime in Moskau. Die belgische Ratspräsidentschaft hat es in den letzten Tagen noch geschafft, das 14. Sanktionspaket gegen Russland zu verabschieden. Es ist allerdings davon auszugehen, dass ernsthafte Gespräche über weitere Sanktionen in den kommenden sechs Monaten nicht stattfinden werden.

Die Ansicht Ungarns in Sachen EU-Erweiterung

Die ablehnende Haltung gegenüber der Ukraine wird auch bei einem anderen Schwerpunkt deutlich: der Erweiterung der EU. Viktor Orban einen ukrainischen EU-Beitritt offensiv ab. Zwar gab es zuletzt grünes Licht für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen, Europaminister Janos Boka machte allerdings schon vor der Übernahme der Ratspräsidentschaft deutlich, dass seine Regierung kein Interesse daran habe, der Ukraine dabei zu helfen, im Laufe ihrer Ratspräsidentschaft eines der 35 Beitrittskapitel zu eröffnen.

Dabei betont Ungarn im offiziellen Programm, dass eine „konsequente und leistungsorientierte Erweiterungspolitik“ verfolgt werden müsse. Das war aber nicht auf die Ukraine gemünzt, denn Orbans Blick richtet sich vor allem auf den Westbalkan. Seit vielen Jahren protegiert der Autokrat aus Budapest seinen Autokratenfreund Aleksandar Vucic in Serbien. Auch seine freundschaftliche Beziehung zum unruhestiftenden Serbenführer und Präsidenten der Republika Srbska Milorad Dodik wird in der EU sehr kritisch gesehen. Zudem hat der ungarische EU-Kommissar für Erweiterung Oliver Varhelyi mit seiner bevorzugten Behandlung von Serbiens EU-Bewerbung und der Verharmlosung von eklatanten Demokratiedefiziten in dem Land immer wieder für Irritationen in Brüssel gesorgt. Erwartet wird, dass Orban die Ratspräsidentschaft offensiv nutzen wird, um Serbien weitere Vorteile zuzuschanzen.

Migration ein zentraler Streitpunkt

Wie erwartet, legt Ungarn ein besonderes Augenmerk auf den Kampf gegen die illegale Migration. Das Thema hat eine große Brisanz, da der Europäische Gerichtshof (EuGH) Budapest jüngst zu einer Strafe in Höhe von 200 Millionen Euro verurteilt hat, weil das Land die EU-Asylregeln nicht umsetzt. Die Richter kritisieren, Ungarn bringe Flüchtlinge ohne ausreichenden Rechtsschutz nach Serbien zurück oder inhaftiere sie in sogenannten Transitzonen. Erwartet wird, dass Ungarn die Ratspräsidentschaft nutzen wird, um im Rat eine härtere Linie in der Asyl- und Migrationspolitik durchzusetzen.

Die Möglichkeiten sind in diesem Fall allerdings begrenzt. Denn die europäische Reform des Asylrechts, die von Ungarn und Polen abgelehnt wurde, ist inzwischen verabschiedet. Daran wird auch die Ratspräsidentschaft nichts ändern. Die Regierung in Budapest könnte sich aber auf die sogenannte „externe Dimension“ konzentrieren, also die Kooperation mit Herkunfts- und Transitländern verstärkt thematisieren. Auch wird Ungarn wohl versuchen, die Arbeitsbedingungen für die nicht-staatlichen Seenotretter zu verschärfen. Denn in den kommenden Monaten wird im Rat die Richtlinie über Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise verhandelt. In diesem Zusammenhang könnte etwa Seenotrettung zur Straftat erklärt werden.

Stärkung der Wirtschaft

Mit Sorge blicken Diplomaten in Brüssel auch auf die wirtschaftlichen Schwerpunkte im Programm der ungarischen Ratspräsidentschaft. Der Grund ist das Verhältnis zu China, denn unter Orban hat sich Ungarn zu einem der wichtigsten europäischen Handelspartner Chinas entwickelt. Im Mai war Budapest sogar eine der wenigen Stationen auf der Europareise des chinesischen Präsidenten Xi Jinping. Dabei wurde eine „umfassende strategische Partnerschaft“ zwischen beiden Ländern vereinbart, betonten beide Politiker. Orban konnte zudem zuletzt chinesische Investitionen im großen Stil in Ungarn verkünden.

Das allerdings steht im krassen Gegensatz zur Strategie der EU-Kommission und vieler Mitgliedsländer, die die Abhängigkeit von Peking reduzieren wollen. Zwar wurde in Brüssel deshalb begrüßt, dass Ungarn die Steigerung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zur Top-Priorität erklärte. Allerdings wird die Gefahr gesehen, dass Orban versuchen könnte, das Tor für den wirtschaftlichen Einfluss Chinas auf Europa weiter zu öffnen.

Das ewige Problem der Rechtsstaatlichkeit

Eine Hoffnung kann sich Ungarn allerdings kaum machen. Es ist davon auszugehen, dass die Regierung versuchen wird, während der Ratspräsidentschaft zumindest Teile der von der EU-Kommission eingefrorenen Zuschüsse in Höhe von rund 20 Milliarden Euro loszueisen. Diese werden seit 2022 nicht ausgezahlt, da Ungarn seit Jahren gegen die Grundsätze von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie verstößt und keine Anstalten macht, dies grundsätzlich zu ändern. Die meisten EU-Staaten sind der Finten und offensichtlichen Erpressungsversuche Viktor Orbans allerdings überdrüssig und dürften einer Freigabe der Gelder kaum zustimmen.