OB Roland Klenk (bei einem Besuch der Notunterkunft in Echterdingen) prangert in einem offenen Brief das „Totalversagen“ der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik an. Foto: Natalie Kanter

Der Rathauschef von Leinfelden-Echterdingen kritisiert in einem offenen Brief die „Tatenlosigkeit der Bundesregierung Regierung“ in der Asylpolitik.

Leinfelden-Echterdingen - Von einer Eruption will Roland Klenk (CDU) nicht sprechen, auch wenn sich in Sachen Flüchtlingspolitik bei Leinfelden-Echterdingens Oberbürgermeister in den zurückliegenden Wochen und Monaten einiges an Frust angestaut hat. Den hat er, wie berichtet, in mehreren Bürgerversammlungen bereits öffentlich thematisiert. Nun lässt er erneut ordentlich Dampf ab. In einem offenen Brief an den Bundestagsabgeordneten und Parteifreund Michael Hennrich geht Klenk mit der Bundesregierung ins Gericht. Ob sein Weckruf Einfluss haben wird auf das Handeln der Bundespolitik, „kann ich nicht einschätzen“, sagt Klenk am Freitagnachmittag auf Anfrage unserer Zeitung.

Der Leinfelden-Echterdinger OB ist nach dem Landshuter Landrat Peter Dreier, der Flüchtlinge mit einem Bus zum Kanzleramt nach Berlin fahren ließ, der zweite Kommunalpolitiker, der in dieser Woche seinem Unmut über die Asylpolitik der Regierung Merkel öffentlichkeitswirksam Luft verschafft. Der Rathauschef der rund 37 000 Einwohner zählenden Großen Kreisstadt auf den Fildern macht im offenen Brief aus seiner „großen Sorge um Partei und Staat“ keinen Hehl und wählt deutliche Worte. „Ich bin entsetzt über die Rat- und Tatenlosigkeit der Regierung“, schreibt der OB. „Was, wie viel und in welcher Form uns zugemutet wird, übersteigt unsere Kräfte“, stellt er in seinem Hilferuf fest.

„Völlig verfehlte Flüchtlingspolitik“

Klenk, seit 41 Jahren Parteimitglied, will seinen Brief nicht als Kritik am Abgeordneten verstanden wissen. Er erhofft sich von Hennrich Hilfe und Unterstützung. Der OB schildert eindrücklich die sich verändernde Stimmung in der Kommune, die bereits rund 600 Flüchtlinge aufgenommen hat: „Täglich erreichen mich Briefe und Mails besorgter Bürger, zahlreiche Gespräche beim Einkauf, auf der Straße oder bei Veranstaltungen haben einen klaren Tenor: Es müssen – im Wort- wie im übertragenen Sinne – Grenzen gesetzt werden. Jeden Tag erlebe ich, wie die Bürgerschaft die Konsequenzen aus der völlig verfehlten Flüchtlingspolitik von der kommunalen Ebene einfordert.“

Er empfinde es als Zumutung, „täglich und in zunehmendem Maß“ Adressat des Unmutes der Menschen zu sein, der durch das Versagen von Bund und Land entstanden sei. „Wir als Stadt machen regelrechte Kopfstände, verschulden uns, bauen an Orten, wo wir nie eine Bebauung vorgesehen hatten, beschwichtigen und versuchen, die gottlob noch immer gegebene Hilfsbereitschaft meiner Bürgerschaft zu stützen und zu stärken“, fasst Klenk zusammen und weist darauf hin, dass ohne die Bürger und Hilfsorganisationen wie Feuerwehr und DRK „alles zusammengebrochen wäre angesichts des fast völligen Versagens des Staates“. Klenk, im links orientierten politischen Lager schon vor einiger Zeit als Schwarzseher oder Scharfmacher in Verruf geraten, weist auch darauf in seinem Brief hin und kontert: „Noch nie hätte ich mich mehr gefreut, nicht Recht zu behalten.“

„Polizei ist Anforderungen nicht gewachsen“

Massiv verschärft wird aus Klenks Warte die „Problematik der schieren Masse an Menschen mit völlig anderem kulturellen Hintergrund“ nun auch noch durch offenbar gewordene Sicherheitsdefizite. Nach den Kölner Ereignissen sei klar, dass die Öffentlichkeit „offenkundig nicht ausreichend informiert wird“. Die Polizei sei den Anforderungen und Gefährdungen „nicht gewachsen“. Roland Klenk nennt es „die Folge einer falschen Sicherheitspolitik, dass es, seit Jahren existent und im Wachsen, in vielen Städten Quartiere der staatlichen Ohnmacht gibt“. Bandenkriminalität sei jedoch „nicht nur mit Sozialarbeitern beizukommen“.

Der OB, studierter Jurist, spricht in seinem Brief auch das Aufsehen erregende Rechtsgutachten des ehemaligen Verfassungsrichters Udo di Fabio an, wonach die Regierung mit ihrer Flüchtlingspolitik die Verfassung gebrochen habe, und betreibt Kanzlerinnenschelte: „Vor diesem Hintergrund sich weiter darauf zu versteifen, tatenlos zu bleiben, bis es eine europäische Übereinkunft gibt, halte ich für eine Provokation. Dann sprechen wir über den Sankt-Nimmerleins-Tag. Und das zu einem Zeitpunkt, wo noch immer täglich 2500 Menschen ins Land strömen.“

Kritik auch am Land

Klenk will allerdings kein falsches Bild entstehen lassen. Er bekennt sich in seinem Schreiben an den Wahlkreisabgeordneten zu den Flüchtlingen in L.-E.: „Solange diese Menschen in unserer Stadt sind, werde ich an einem friedlichen und guten Miteinander arbeiten, an menschenwürdigen Umständen und an Möglichkeiten, sich zu integrieren.“ Erneut greift er auch die mangelnde finanzielle Hilfe durch das Land bei der Anschlussunterbringung an. 25 Prozent Investitionszuschuss nennt der OB „mehr als ärmlich“.

Dem Abgeordneten Michael Hennrich sind Briefe wie jener von OB Klenk nicht fremd. „Uns erreichen täglich ähnliche Schreiben von Bürgern.“ Er wolle Klenks Schreiben natürlich beantworten, ans Kanzleramt weiterleiten und sich um ein Treffen zwischen Angela Merkel und dem OB von L.-E. bemühen, „damit er ihr seine Sorgen persönlich schildern kann“, reagiert Hennrich noch am Freitag auf die brisante Post aus dem Wahlkreis.

Abgeordneter will Kommunen entlasten

„Ich sehe, dass wir bei der Flüchtlingsaufnahme an Grenzen stoßen“, sagt Hennrich, der sich nicht zum Kreis der Rebellen in der CDU-Bundestagsfraktion zählt. Er habe Bundeskanzlerin Merkel empfohlen, ein Zeitfenster für eine europäische Einigung in der Flüchtlingsfrage zu finden. Sollte dies erfolglos bleiben, müssten „nationale Maßnahmen ergriffen und umgesetzt werden“, sagt Hennrich – und vermeidet dabei den sich dahinter verbergenden Begriff Grenzschließungen. Außerdem werde er sich für weitere Entlastungen der Kommunen einsetzen. Dazu zähle er die Aufstockung der Mittel aus dem Haushaltsüberschuss von zwölf Milliarden Euro, den zügigeren Abschluss von Anerkennungsverfahren und die unmittelbare Abschiebung nicht anerkannter Asylbewerber.