Sind Religionsgemeinschaften eine Bedrohung oder bedroht? Diskussion unter Mitgliedern des Rates der Religionen. Foto: Martin Haar

Der Rat der Religionen Stuttgart macht mit seiner Haltung vor, wie ein friedliches Miteinander zwischen Menschen unterschiedlichen Glaubens gelingen kann.

Stuttgart - So präsent und aussagekräftig wie an diesem Abend war der Stuttgarter Rat der Religionen seit seiner Gründung im Jahr 2015 selten. Ob es am Thema „Religionen bedroht – oder Bedrohung“ lag oder am neuen Willen zu mehr Öffentlichkeit, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass Ali Ipek (DITIB), Deniz Kiral (Alevitische Gemeinde), Diradur Sardaryan (Armenische Gemeinde), Susanne Jakubowski (Jüdische Gemeinde), Ordnungsbürgermeister Clemens Maier sowie die katholischen Vertreter Stadtdekan Christian Hermes und seine Laienvertreterin Verena Neuhausen in einer Diskussion tiefe Einblicke in das brisante Thema gaben.

Zum Hintergrund: Die Statistik politisch motivierter Kriminalität des Bundeskriminalamts (BKA) weist im vergangenen Jahr fast 3000 Angriffe gegen Religionsgemeinschaften aus, ein Anstieg um 39 Prozent. Fast vervierfacht haben sich Angriffe auf religiöse Repräsentanten − von 559 im Jahr 2019 auf 2217 im vergangenen Jahr. 70 Prozent dieser Angriffe richteten sich den Angaben des BKA zufolge gegen Vertreter jüdischer Gemeinschaften, rund ein Viertel gegen Repräsentanten muslimischer Religionsgemeinschaften. 90 Prozent der Straftaten seien rechtsextrem motiviert gewesen.

Alles gut in Stuttgart?

Aber wie ist die Lage in Stuttgart? Wie sieht es hier mit der Bedrohung und den Angriffen auf Religionsgemeinschaften aus? Und geht von manchen Gemeinschaften gar eine Gefahr aus? Ordnungsbürgermeister Maier meint nein: „Es gibt Gemeinden, die im Blick des Verfassungsschutz sind. Aber es besteht in Stuttgart keine strukturelle Gefahr, die von Religionsgemeinschaften ausgeht.“ Es seien vielmehr „verwirrte Einzelgeister mit einem krankhaften Glauben“. Weiter meinte er: „Wir haben eine sehr sichere Stadt für Religionsgemeinschaften.“ Das liegt aus seiner Sicht auch daran, dass es in der Stadt so gut wie keine rechte Szene gebe: „Deshalb haben wir auch keine Anschläge auf die Synagoge.“ Wie so oft bei solchen Themen: Faktenlage und Wahrnehmung driften auseinander. Tatsächlich schützen Polizeibeamte mit viel Einsatz täglich die Synagoge. Zudem sicherten am Abend zwei Beamte die Veranstaltung im Haus der Katholischen Kirche. Nicht zuletzt gab es im April 2019 eine Bombendrohung gegen die armenische Gemeinde. Daher erklärte Susanne Jakubowski: „Wir sind eine bedrohte Minderheit.“ Auch Christian Hermes empfindet es nicht als Kavaliersdelikt, wenn Aktivisten an Karfreitag den Gottesdienst mit lauter Techno-Musik stören. Auch Deniz Kiral von der alevitischen Gemeinde berichtet von Drohanrufen seitens türkischer Nationalisten oder von rechtsextremen Deutschen.

Nathan der Weise sollte zur Pflichtlektüre werden

Was also tun gegen Extremisten, die mit fundamentalistischen Überzeugungen Hass und Gewalt legitimieren? Hier waren sich alle einig: Frieden und Toleranz vorleben. So, wie es sich die Mitglieder des Rates selbst verordnet haben. Man hat sich darauf verständigt, keine theologischen Wahrheitsfragen zu diskutieren und sich nur auf Stuttgart zu fokussieren. Das beste Mittel gegen religiöse Verblendung, da waren sich ebenso alle einig, sei Bildung. „Bildung bewirkt, dass man sich selbst reflektiert und die Meinungen anderer nachvollziehen kann“, so Clemens Maier: „Bildung ist das wirksamste Mittel, um ein friedvolles Miteinander zu gewährleisten.“ In diesem Sinne machte Stadtdekan Christian Hermes zum Abschluss den Vorschlag, G.E. Lessings „Nathan der Weise“ mit der Ringparabel wieder in den Literatur- und Bildungskanon der Schulen aufzunehmen. Die Kernaussage der Ringparabel lautet: Die Menschen von ihrer religiösen Engstirnigkeit zu lösen sowie Toleranz gegenüber anderen Religionen und menschliches Handeln zu üben. Ob das in Zukunft gelingen kann? Für Hermes ist es ein „Test of History“, den alle Religionen bestehen müssten.