Gestiegene Energiepreise und der Ukraine-Krieg heizen die Inflation weltweit an. In der Türkei kommen hausgemachte Probleme hinzu.
Schwester, kannst du das Mikrofon ausmachen?“, bittet ein Teppichverkäufer in der Altstadt von Istanbul, bevor er sich zur Wirtschaftslage äußern mag. Wer solle ihm kleinen Mann denn helfen, wenn er eingesperrt werde, fügt er entschuldigend hinzu, wo doch selbst die prominenten Intellektuellen nicht mehr freigelassen würden. Grundsätzlich sei es ja nicht verboten, eine Meinung zu äußern, räumt er ein, nachdem er sich noch einmal umgesehen hat, ob auch wirklich niemand in Hörweite ist. „Wenn ich jetzt zum Beispiel sagen würde, dass Deutschland an unserer Wirtschaftsmisere schuld ist, dann wäre das in Ordnung – das könnte ich ins Mikrofon sagen.“ Die erdrückende Inflation zu beklagen und die Wirtschaftspolitik der türkischen Regierung zu kritisieren, das sei dagegen zu riskant – auch wenn er da viel zu beklagen habe.
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Inflationsrate bei 160 Prozent?
Sein Geld reiche hinten und vorne nicht mehr, sagt der Mann. Bei 73,5 Prozent liegt die offizielle Inflation in der Türkei mittlerweile, so hoch wie seit 1998 nicht mehr. Regierungsunabhängige Experten und die Opposition werfen der Regierung vor, diese schockierende Zahl sei noch geschönt. Enag, eine Gruppe unabhängiger Wirtschaftswissenschaftler, beziffert die Inflationsrate auf 160 Prozent.
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Nach der gängigen Volkswirtschaftslehre sollte ein Land als Mittel gegen die Inflation die Leitzinsen erhöhen, um das Geld knapper zu machen, doch Präsident Recep Tayyip Erdogan ist anderer Ansicht. Auf seine Anweisung hin hat die türkische Zentralbank die Zinsen mehrmals gesenkt und damit die Inflation und den Wertverlust der Lira beschleunigt. Die türkische Landeswährung hat seit Anfang des vergangenen Jahres die Hälfte ihres Wertes gegenüber dem Euro eingebüßt. Trotzdem will Erdogan die Zinsen weiter senken.
Der Brotpreis hat sich in einem Jahr verdoppelt
Für Normalbürger geht es um mehr als um die richtige Wirtschaftstheorie. Ein Frührentner, der mit umgerechnet 150 Euro im Monat auskommen muss, zählt seine Ausgaben auf: Miete, Wasser, Strom – „da kann ich mir kaum noch was zu essen kaufen“. Der Preis für einen Laib Brot hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Nach einer Schätzung der UNO haben 15 Millionen Türken nicht genug zu essen.
Besonders stark ist die Krise auf Wochenmärkten wie dem Sali Pazari im Istanbuler Stadtteil Kadiköy zu spüren, wo Menschen mit geringem Einkommen ihre Lebensmittel, Kleidung und Haushaltsartikel kaufen, während wohlhabende Türken in Einkaufszentren und Supermärkten shoppen.
Wählen zwischen Essen und Kleidung
In einer Tiefgarage werden in Kadiköy jeden Dienstag hunderte Stände aufgebaut, an denen alles von Tomaten und Käse bis zu Unterwäsche und Kinderkleidung zu einem Bruchteil der Ladenpreise feilgeboten wird. Selbst dort drehen die Käufer inzwischen jede Lira dreimal um, berichten die Händler. Natürlich verkaufe sie kaum mehr etwas, sagt eine Wäscheverkäuferin auf einem anderen Markt: „Wenn die Leute sich entweder etwas zu essen kaufen können oder etwas zum Anziehen, dann ist die Wahl wohl klar.“
Auch Benzin, Strom und Gas werden ständig teurer. Die Preise steigen so schnell, dass die Entlastung durch eine Erhöhung des Mindestlohnes um 50 Prozent im Dezember schon verpufft ist. Auf die 4253 Lira Mindestlohn sind Millionen Arbeitnehmer angewiesen. Im Dezember waren sie 345 Euro wert – heute sind es noch 234 Euro.
Trotz der Krise begehren die Bürger nicht gegen die Regierung auf, denn viele haben Angst, wegen kritischer Äußerungen ins Gefängnis zu kommen. Ein Journalist, dessen regierungskritische Straßenumfragen im Internet millionenfach geklickt werden, berichtet von mehr als hundert Strafverfahren, die gegen ihn und befragte Bürger laufen.
Nur drei Prozent können bequem leben
Anonym erhobene Umfragen lassen erahnen, wie schwer der Alltag für viele geworden ist. Demnach können nur drei Prozent der Türken mit ihrem Einkommen bequem leben. Zwei Drittel der Befragten haben große Schwierigkeiten, mit ihrem Geld bis zum Monatsende auszukommen; die anderen schlagen sich durch, oft mit Hilfe von Verwandten. Andere belasten ihre Kreditkarten immer weiter – oder legen sich weitere Kreditkarten zu, um ihre Rechnungen zu bezahlen oder die Schulden bei anderen Kartenanbietern zu begleichen. Die Zahl der Karten in der Türkei ist innerhalb von zwei Jahren von 76 Millionen auf 88 Millionen gestiegen.
Regierung deckelt die Mietpreise
Erdogans Regierung schwankt unterdessen zwischen Schönfärberei und Notmaßnahmen. Der Präsident behauptete vor ein paar Tagen, die Türkei habe überhaupt kein Problem mit der Inflation. Es gebe lediglich ein Problem wegen steigender Lebenshaltungskosten – worin für die Verbraucher der Unterschied bestehen soll, behielt Erdogan für sich. Kurz darauf verfügte die Regierung eine Deckelung der Mietpreise, die bis zum nächsten Jahr nur um 25 Prozent erhöht werden dürfen.
Auch sonst gibt Erdogans Kabinett kein gutes Bild ab. Finanzminister Nureddin Nebati sagte kürzlich, die Politik der Regierung nütze allen, nur den unteren Einkommensschichten nicht. Erdogan soll dem Minister darauf einen Maulkorb verpasst haben. Dabei sprach Nebati nur aus, was viele Türken jeden Tag erleben.