„Unter jungen Menschen hat es gebrodelt“: Streetworker Serkan Bicen. Foto: Schumacher

Wie reagieren nach den schweren Ausschreitungen am Wochenende in der Landeshauptstadt? Der Stuttgarter Streetworker Serkan Bicen versucht, Antworten zu geben.

Stuttgart - Serkan Bicen (32) ist Streetworker in Stuttgart und beschäftigt sich mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen unterschiedlichster Herkunft. Nach den Gewaltausbrüchen in der Innenstadt rät der gebürtige Hamburger zur Besonnenheit.

Herr Bicen, hätten Sie sich einen solchen Gewaltexzess in Stuttgart vorstellen können?

In dieser Dimension sicher nicht. Ich habe aber in den vergangenen Wochen gespürt, dass es unter jungen Menschen in der Stadt immer stärker gebrodelt hat.

Woran lag das?

Die Maßnahmen im Zuge der Corona-Krise haben zwangsläufig zu großen Frustrationen geführt. Junge Leute haben sich ihrer Freiheit beraubt gefühlt, sie sahen sich teilweise sogar als Störfaktor im öffentlichen Leben. Die verstärkten Polizeikontrollen, die Geldbußen und Platzverweise haben diese Unzufriedenheit zusätzlich verschärft. Am Ende hat ein Funke gereicht, um den Kessel explodieren zu lassen. Die Devise lautete: Bis hierhin und nicht weiter – was natürlich in keiner Weise einen derartigen Gewaltausbruch legitimiert.

Wer verbirgt sich hinter dem, was der Polizeipräsident als „Party- und Eventszene“ bezeichnet?

Ich finde diese Wortwahl sehr unglücklich, weil sie pauschalisiert und so tut, als gehörten solche Verhaltensmuster bei jungen Menschen dazu. Wir haben in Stuttgart eine sehr heterogene Szene mit Menschen unterschiedlichen Alters und aus ganz unterschiedlichen Milieus. Es gibt die Jugendlichen aus dem Umland, aber auch junge Erwachsene aus bürgerlichem Milieu. Das ist nicht „die Partyszene“, sondern ein kunterbunter Haufen.

Was muss passieren, damit sich eine solche Nacht nicht wiederholt?

Man darf jetzt nicht den Fehler machen, allein die rechtsstaatliche Keule zu schwingen. Es bedarf einer besonnenen Aufarbeitung und einer Diskussion, die nicht nur innenpolitisch, sondern vor allem sozialpolitisch geführt werden muss. Die Politik sollte sich die Fragen stellen: Welche Bedürfnisse haben junge Menschen? Werden ihre Sorgen und Ängste überhaupt wahrgenommen? Das wurde nach meinen Beobachtungen stark vernachlässigt. Es reicht jetzt nicht zu versuchen, die Jugend mit neuen Verboten und Repressionen auf Linie zu bringen. Viel besser wäre es, einen Dialog zu führen, über dem natürlich die klare Haltung stehen muss: Nein zur Gewalt.

Stuttgart war immer stolz darauf, eine liberale Stadt zu sein. Wird das so bleiben?

Ich halte es für das völlig falsche Signal, dass der Innenminister (Thomas Strobl/CDU, Anm. d. Red.) diese Liberalität und das Modell des Multikulti in Frage gestellt hat. Stuttgart war aus meiner Sicht immer beispielhaft für ein weitgehend gelungenes Zusammenleben zwischen Migranten und dem, was Cem Özdemir gerne Bio-Deutsche nennt. In meiner Arbeit erlebe ich täglich, dass Herkunft, Religion oder Hautfarbe in der jungen Generation keine Rolle mehr spielt. Ich hielte es daher für fatal, von den liberalen Werten in dieser Stadt abzurücken.