Leipzigs Sportdirektor Ralf Rangnick, Trainer Ralph Hasenhüttl (re.): Erfolgsgespann Foto: dpa

An Menschen wie ihm scheiden sich gern mal die Geister. Unbestritten ist aber: Ralf Rangnick hat viel dazu beigetragen, den deutschen Fußball zu erneuern. Sein Weg bleibt trotzdem lang und steinig. Erst recht als Sportchef bei RB Leipzig.

Stuttgart - Irgendwann wird es Ralf Rangnick zu bunt. Er greift nach einem Stoß Bierdeckel, schiebt Gläser so virtuos über den Tisch wie ein Hütchenspieler und durchbohrt den begriffsstutzigen Reporter mit fragenden Blicken. Na, fällt der Groschen? So funktioniert das moderne Fußballspiel.

Nun, es hat noch ein bisschen gedauert. Das war Ende der 1980er Jahre, als dem einen oder anderen Bundesliga-Dino dämmerte, dass sein Plan des Spiels im Begriff war, zum Antagonismus zu verkommen. Zwar feierte die DFB-Elf 1990 noch einmal einen Weltmeistertitel und erneuerte die Gültigkeit der Regel, wonach ein deutsches Team erst dann geschlagen ist, wenn es wieder im Mannschaftsbus sitzt, aber in Mailand, Barcelona oder Manchester spielten sie längst ziemlich modern in Abwehrketten – und ohne den Libero nach Art von Franz Beckenbauer.

Neue System-Fragen

Die neuen System-Fragen hatten die Beletage des Fußballs erreicht, aber das Beharrungsvermögen der Traditionalisten tat die ballorientierte Raumdeckung, das Verschieben der Akteure auf dem Spielfeld, ab als bloße Hirngespinste. Ein Kaiser-Reich ohne den letzten Mann? Undenkbar. Die enge Deckung des Gegenübers war sakrosankt, und nicht selten gipfelte die Ansprache des Trainers in Handlungsanleitungen, die wenig Spielraum für Interpretationen ließen: „Und wenn euer Gegenspieler pissen geht, dann haltet ihr ihm . . . na, ihr wisst schon!“ Ergänzt vom ultimativen Hinweis auf kompromisslos vegane Ernährung: „Männer, ihr müsst Gras fressen!“

Beim VfB Stuttgart drückten sich in jener Zeit die Lästerer ihre Nasen platt an den Fenstern der Geschäftsstelle. Meistens dann, wenn Nachwuchscoach Ralf Rangnick seine A-Junioren trainierte. Mit Kofferradio – im Rhythmus der Musik. Im Lehrstab des Württembergischen Fußballverbands (WFV) erzählten sie feixend die Anekdote, wie der studierte Pädagoge (Sport und Englisch) die Spielersinne vor dem Anpfiff zu schärfen gedachte: mit Finsternis in der Kabine. „Die haben vor lauter Konzentration nicht mehr aufs Spielfeld gefunden“, erzählten die Spötter und lachten sich schlapp.

„Wenn ich das heute so höre“, sagt Ralf Rangnick, „dann muss ich selber schmunzeln.“ Wer schon in jungen Jahren nach dem Zenit seiner Möglichkeiten forscht, greift eben auch mal zu den falschen Sternen. Seinen Weg durch die Hochämter der Fußball-Bundesliga begleitet bis heute jedenfalls der Verdacht, mit seinen analytischen, methodischen und rhetorischen Fähigkeiten der eigentliche Lehrherr jener mit Laptop bewaffneten Konzepttrainer zu sein, die mehr auf Daten, Fakten und den Dialog mit ihren Spielern vertrauen als auf Binsenweisheiten, Bauchgefühle und strenge Hierarchien.

RB Leipzig und die Tradition

Und was ihm nun als Sportdirektor bei Rasenballsport Leipzig an ätzender Kritik, beißendem Spott bis hin zu blankem Hass entgegenschlägt, wirkt wie der hilflose Konter derer, die den Weg des Liga-Novizen mit dem heuchlerischen Hinweis auf ein Kunstprodukt ohne Tradition zu blockieren versuchen. Dabei nützt der Club nur konsequent den Spielraum, den ihm die Branche lässt.

Die Liga spielt ja schon lange nicht mehr nur für ein Butterbrot. „Natürlich ist es ein Vorteil“, sagt der schwäbische Erneuerer des Fußballs, „wenn man nicht jeden Euro zweimal umdrehen muss.“ Als Red-Bull-Boss Dietrich Mateschitz vor Jahren mit seinem Hubschrauber in Kleinaspach landete, um den Backnanger Fußballlehrer von seiner Mission zu überzeugen, haben sie nicht nur über Viererketten, Pressing und das schnelle Umschaltspiel gesprochen. Sinnvoll eingesetztes Geld ermöglicht nun mal Spielzüge, die den Unterschied machen zwischen ganz gut und sehr gut – im Fußball wie im richtigen Leben. Und mit Durchschnitt pflegte sich Ralf Rangnick noch nie zufriedenzugeben.

So gesehen hätte er den Job als Chefcoach beim VfB Stuttgart nie antreten dürfen. Sein Vater hatte ihn ja gewarnt: „Junge, da wirst du nicht glücklich.“ Aber sein Sohn, der bei den VfB-Amateuren gekickt, die U 23 und die A-Junioren trainiert, schließlich als Jugendkoordinator gearbeitet hatte, sagte zu. Heute ist er schlauer: „Der VfB war damals eine permanente Baustelle.“ Sein Dauerzwist mit Superstar Krassimir Balakov, entzündet am unterschiedlichen Spielverständnis, ist legendär. Sie waren Dickschädel, voller Leidenschaft und zu keinem Kompromiss bereit.

Balakov hospitiert bei RB

„Das würde ich heute anders machen“, sagt Ralf Rangnick. Neulich, erzählt er, habe „Bala“ ihn gefragt, ob er bei RB Leipzig mal hospitieren dürfe. „Natürlich, gerne. Kein Problem. Du bist bei uns jederzeit herzlich willkommen.“ Es ist wie mit dem Stein, der – vom Fluss des Lebens geschliffen – nach und nach die verletzende Schärfe seiner Kanten verliert. Aber seinen Ehrgeiz legt der Mensch nicht einfach ab wie alte Kickstiefel.

Bei 1899 Hoffenheim rieb er sich, von seinen Überzeugungen und Wertvorstellungen getrieben, an Club-Boss Dietmar Hopp, der den heutigen VfB-Sportvorstand Jan Schindelmeiser zum Geschäftsführer befördert hatte, ohne den Coach zuvor zu informieren. Auf Schalke brandmarkte er öffentlich die andauernden Indiskretionen des Vorstands, ließ sich von den Fans dafür feiern und bekam den Stuhl vor die Tür gesetzt. Heute ahnt er: „Die größten Fehler macht man in der Emotion. Ganz gleich, ob im Erfolg oder in der Krise.“

Sein zweiter Anlauf beim Kultclub aus dem Revier endete mit einem Burn-out. Wer dabei war, als Ralf Rangnick seine Demission bekannt gab, erzählt, dass ein Spieler vor Freude in der Kabine tanzte – befreit vom Zwang eines Trainers, der alles kontrollierend wie eine Awacs über Schalke kreiste. „Der Ralf“, ätzte Manager Rudi Assauer, „würde am liebsten noch der Sekretärin auf der Geschäftsstelle sagen, wie sie ihren Job zu machen hat.“ Es gibt wohl bessere Referenzen für die Karriere in einer Branche, die Vitamin B seit je zum Geschäftsprinzip erhebt.

Wenn es aber stimmt, dass Erkenntnis die Summe aller Erfahrungen ist, dann sitzt auf dem Bürostuhl in der Leipziger RB-Akademie nun ein visionärer Sportdirektor, der so zielstrebig wie behutsam ein Projekt steuert, das dem deutschen Fußball neuen Stoff für Diskussionen liefert: Versündigt sich der atemberaubende Hochgeschwindigkeitsfußball des Aufsteigers an den Kräften der Spieler, oder ist er stilprägend für eine neue Art des Spiels? Gegen alle Widerstände. Ralf Rangnick sagt, „dass über die Entwicklung von Leistung auch Erfolg ein Stück weit planbar ist“. Und er sagt, dass er sich noch nie groß um das geschert habe, was andere von ihm denken oder über ihn sagen.

Das alles macht ihn und seine Helfer nicht unbedingt beliebter. Aber Leipzig und die Region schätzen sie als Symbole einer neu erwachten Identität und ein bisschen wohl auch als Retter des siechenden Fußballs im Osten.

Mit ausgeprägtem Sinn für Gerechtigkeit

Gut möglich, dass sich der unbeugsame Reformator in seinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit mit den Menschen besonders verbunden fühlt, die in der Nachkriegsgeschichte häufiger verloren haben als gewonnen. Rangnicks Eltern, Flüchtlingskinder aus Schlesien, lernten sich beim Tanz im sächsischen Dörfchen Kuhschnappel kennen. Er erinnert sich, dass er als Kind jeden Sommer zu Besuch beim Bruder seines Vaters war, ganz in der Nähe von Zwickau.

Womöglich entwickelte er schon damals die Antennen, die ihn jetzt nach Leipzig führten. Ralf Rangnick zuckt mit den Schultern: „Da ist vielleicht was dran.“ Sicher ist nur, dass er schon als kleiner Junge mit dem Ball unterm Arm auf dem Bolzplatz in Backnang stand und den anderen ziemlich selbstbewusst erklärte, was sie zu tun haben, um siegen zu können. „Am erfolgreichsten“, sagt er, „war ich immer, wenn ich Gestaltungsspielraum hatte. Wenn man mich machen ließ.“

Und daran, behaupten sie in Leipzig, hat sich bis heute nichts geändert.