Beruflich leitet Doris Wehrle die Caritas-Beratung der katholischen Kirche in Fellbach. Doch ausgerechnet ihrem geistig eingeschränkten Neffen kann sie kaum Hilfe bieten.
Dass Michael Mayer auf der Schattenseite des Lebens steht, ist auf den ersten Blick nicht unbedingt zu erkennen. Der junge Mann aus Waiblingen, die Sonnenbrille auf dem zum Zopf geknoteten Haarschopf, wirkt eher wie ein Sonnyboy denn wie ein Sozialfall. Doch von der Urlaubsstimmung, die sein mit Meereswellen und Palmenstrand bunt bedrucktes Hemd vermittelt, kann bei „Michi“ keine Rede sein.
Im Gegenteil: Seine Mutter hat der junge Mann schon vor Jahren verloren, im vergangenen August verstarb auch sein Vater. In seinem Job droht eine Veränderung, die er gar nicht überblicken kann. Und wenn sich nicht schnell eine neue Bleibe für ihn findet, sitzt der 22-Jährige samt seinen zwei Katzen spätestens im kommenden Monat auf der Straße.
Der Wohnungsbesitzer hat eine Räumungsklage eingereicht
Der Grund: Der Besitzer der Wohnung am Waiblinger Wasserturm, in der Michael Mayer lebt, hat eine Räumungsklage eingereicht. Nicht nur wegen Eigenbedarfs, sondern auch, weil der bei den Remstal-Werkstätten arbeitende Tierfreund gar nicht sein Mieter ist. Spätestens zum Monatsende muss der 22-Jährige raus aus der Wohnung – auch wenn die Suche nach einer neuen Unterkunft einen wie ihn heillos überfordert.
Um verstehen zu können, wie groß die Not des jungen Waiblingers ist, muss man wissen, dass es sich bei Michael Mayer um ein FAS-Kind handelt. Hinter der Abkürzung verbirgt sich das „Fetale Alkohol-Syndrom“, gemeint ist mit dem medizinischen Fachbegriff, dass seine Mutter während der Schwangerschaft zur Flasche griff.
Folge der vorgeburtlichen Saufexzesse sind schwere geistige Störungen. Michael Mayer ist kognitiv stark eingeschränkt, er gilt als Pflegefall und ist zu 50 Prozent schwerbehindert. „Wenn alles in geordneten Bahnen läuft, kommt er gut mit dem Leben zurecht, weiß, wo er einkaufen muss und wie er zu seinem Arbeitsplatz kommt“, sagt Doris Wehrle, seine Tante. „Aber wenn es mal nicht exakt nach Plan geht, ist es eben aus“, beschreibt sie seine Schwierigkeiten mit der Selbstständigkeit.
Spontane Richtungswechsel sind im Alltag von Michael Mayer nicht vorgesehen. Der junge Waiblinger gehört zu den Menschen, für die buchstäblich eine Welt zusammenbricht, wenn das Katzenfutter im Supermarkt in einem neuen Regal steht oder der Nahverkehrsbus wegen einer Baustelle plötzlich eine andere Haltestelle hat. Die Suche nach einer Wohnung, auf dem Mietmarkt der Region ohnehin ein Glücksspiel, wird für so jemanden zu einem Ding der Unmöglichkeit, die Erfolgschancen sind gleich null.
Die Mutter ist an einer Lungenembolie gestorben
Eigentlich bräuchte Michael Mayer deshalb Unterstützung, professionelle Hilfe, einen Platz in einer Wohngruppe. Seine Mutter hat er vor Jahren tot auf dem Sofa gefunden, gestorben an einer Lungenembolie nach einer Operation. 15 Jahre war Michi damals alt, das Trauma wirkt nach. Der getrennt von der Familie lebende Vater nahm den Teenager nach dem Tod der Mutter zu sich, im August starb unerwartet auch er. Auch deshalb hat der 22-Jährige nie einen Mietvertrag für die Wohnung in Waiblingen unterschrieben – und erlebt nun, dass viele Mühlen zu langsam mahlen für einen, der auf schnelle Hilfe angewiesen ist.
„Sie können sich vorstellen, dass ich alle relevanten Kontakte mobilisiert habe: Jugendamt, Eingliederungshilfe, Erlacher Höhe, Diakonie, einen Rechtsanwalt, den Antrag auf einen gesetzlichen Betreuer“, zählt Doris Wehrle auf. Die Klage über die fehlenden Maschen im sozialen Netz ist schon deshalb bemerkenswert, weil sich die Tante mit den verschiedensten Hilfsmöglichkeiten beruflich bestens auskennt. Doris Wehrle leitet die Caritas-Stelle der katholischen Kirche in Fellbach – und weiß schon deshalb, wohin sich Menschen mit ihren Problemen wenden können.
Doch im Fall ihres Neffen ist auch die Fachfrau mit ihrem Latein am Ende. „Inzwischen verstehe ich viele meiner Klienten, die sich oft beklagen, dass nichts vorangeht. Es ist zum Verzweifeln“, gesteht sie. Natürlich versucht Doris Wehrle ihrem Neffen auch selbst bei der Wohnungssuche zu helfen, bisher allerdings ohne Erfolg. „Es ist so frustrierend, dass ich fremden Menschen über die Caritas auf die Beine helfen kann, aber in meinem privaten Umfeld nichts erreiche“, macht sie sich Luft.
Auch die Schwester des 22-Jährigen hat sich bereits mehrere Ein-Zimmer-Appartements für ihren Bruder angeschaut, sich aber nur Absagen eingehandelt. Doris Wehrle hofft nun auf ihre Kontakte über die Caritas – und auf die Öffentlichkeit. „Leider brennt die Zeit. Aber wenn die Wohnung in Fellbach wäre, das wäre ideal“, sagt sie. Denn die Werkstätten der Diakonie ziehen aus der Waiblinger Innenstadt in die Philipp-Reis-Straße um – mit allen Schwierigkeiten, die dieser Schritt für die geistig eingeschränkte Belegschaft mit sich bringt.