Stuttgart verkauft sich als Fahrradstadt. Doch die, die täglich mit dem Rad unterwegs sind, haben andere Geschichten auf Lager. Manche von ihnen geben sich kämpferisch, andere haben resigniert.
Negativbeispiele fallen Tobias Willerding genügend ein. Zum Beispiel die Umweltspur. Radlern und Bussen ist eine eigene Spur auf der König-Karl-Straße in Bad Cannstatt versprochen, für Autos fällt sie weg. „Das ist keine aufwendige Maßnahme“, sagt der Vorsitzende des ADFC-Kreisverbands Stuttgart. Es brauche eigentlich nur ein bisschen Farbe, Schilder – und guten Willen. Doch daran hapert es, wenn man Radfahrer fragt, wie sie auf Stuttgart blicken.
Noch 2024 sollte besagte Umweltspur freigegeben werden, der ADFC rechnet aber nicht mehr mit einer Umsetzung in diesem Jahr. Und auch die Stadtverwaltung bringt inzwischen eine Verzögerung bis Frühjahr 2025 ins Spiel.
Offiziell nennt die Stadt sich „Fahrradstadt“. Man habe sich zum Ziel gesetzt, „dass die Autostadt Stuttgart auch zur Fahrradstadt wird“, heißt es dazu. Dieser Anspruch des Nebeneinanders spiegelt sich auch im Radverkehrsbericht 2023 wider. Demnach gibt es in Stuttgart rund 360 Kilometer an Radstrecken – wobei sich diese stark unterscheiden. Gerade einmal 20 Kilometer sind allein für Radler reserviert. Den großen Rest teilen sie sich mit Fußgängern (270 Kilometer) und Autos (70 Kilometer).
Radaktivist kritisiert falsche Priorisierung in Stuttgart
Für die Arbeitsgemeinschaft Fahrrad- und Fußverkehrsfreundlicher Kommunen in BadenWürttemberg (AGFK) scheint das auszureichen. Kürzlich wurde Stuttgart von der AGFK für seine „hohen Standards bei der Planung von Rad- und Fußverkehrsinfrastruktur“ ausgezeichnet. Allerdings: 31 weitere Kommunen in Baden-Württemberg haben dieselbe Würdigung erhalten.
Thijs Lucas, der den Radentscheid in Stuttgart mitgegründet hatte, inzwischen aber nicht mehr in Stuttgart lebt, kritisiert eine falsche Priorisierung vonseiten der Stadt. Er sieht etwa ausreichend Platz für gute Radwege entlang der B 14. „Warum verschließt man sich da als Landeshauptstadt konstruktiven Überlegungen?“ fragt er. Der Radentscheid war letztlich ein Bürgerentscheid, bei dem Forderungen an die Verwaltung gestellt wurden, um bessere Bedingungen für Radfahrer in der Stadt zu schaffen.
„Das Thema Rad wird nicht von oben getrieben“
Der Radverkehr ist in Stuttgart „politisch hart umkämpft“, ist von Insidern zu erfahren. Projekte würden beschlossen, blieben dann aber hängen – auch wegen fehlender Personen in den Ämtern. Zudem würden Radprojekte oft zugunsten des Autoverkehrs abgespeckt, heißt es. Die Flüssigkeit des Autoverkehrs habe immer „oberste Priorität“.
Das nehmen die Leute vom ADFC auch so wahr. „Der politische Wille ist mehrheitlich da, aber es kommt nicht auf die Straße“, sagt Willerding. „Das Thema Rad wird nicht von oben getrieben.“
Ob der Radweg durch Kaltental bleibt, ist unsicher
Viele Stuttgarter Fahrradfahrer sind frustriert. Nach dem Radentscheid 2019 sei wenig Konkretes passiert. Als Positivbeispiel fällt Thijs Lucas nur Kaltental im Stadtbezirk Süd ein. Dort sei innerhalb von kurzer Zeit ein qualitativ hochwertiger Pop-up-Radweg entstanden. Doch ob dieser bleibt, ist unklar, eine abschließende Befragung aller Beteiligten steht noch aus.
Ein Kipppunkt in der Motivation für viele in der Radszene sei die Nürnberger Straße in Bad Cannstatt gewesen, sagt Thijs Lucas. Dort gibt es inzwischen einen Radschnellweg, allerdings verläuft die Radspur zwischen Straße und Parkplätzen. Das führt dazu, dass Autofahrer auf die Radspur ziehen, um ein- oder auszuparken – und viele Radfahrer andere Strecken wählen. Es folgte die Diskussion, ob es das Ganze gebraucht hätte. „Man hätte dort die Radwege, wie durch den Beschluss zum Radentscheid gefordert, umsetzen können“, kritisiert Lucas. „Die von der Verwaltung vorgeschobenen Widersprüche waren rein politisch.“
Einige Radaktivisten hätten sich frustriert zurückgezogen
Die Verwaltung habe sie in die Planung nicht oder schlecht eingebunden. „Was wir gefordert haben, wurde nicht beachtet und von der Verwaltung als unmögliche Maximalforderung dargestellt.“
Im Ergebnis seien viele Radaktivisten so enttäuscht und frustriert gewesen, dass sie sich aus Beteiligungsverfahren rausgezogen haben, hört man. Das sogenannte Radforum sei mehr oder weniger bedeutungslos geworden. Cornelius Gruner vom ADFC findet das falsch: „Man muss mit den Leuten reden und sie an den Punkten stellen, an denen es nicht klappt“, sagt er. Dafür brauche es Frustrationstoleranz.
Immerhin gibt es inzwischen den Mobilitätsbeirat, der sechsmal pro Jahr tagt. Darin sitzen neben Bürgermeister Peter Pätzold auch sogenannte sachkundige Einwohner, also normale Bürger, die ihre Erfahrungen und Einschätzungen teilen können. Christina Müller von der Initiative Zweirat hat dort bis Sommer 2024 die Radfahrer-Interessen vertreten. Dass der Schwung raus sei in der Fahrradszene, will sie so nicht stehen lassen: „Zwar sind wir weniger Aktivisten als früher, weil einige weggezogen sind oder gemerkt haben, wie kräftezehrend das Ganze ist.“ Deshalb gebe es weniger Demos und Aktionen, allerdings seien einzelne Projekte wie die Kidical Mass weiterhin sichtbar in der Stadt.
Auch Bezirksbeiräte wehrten sich oft, heißt es
Sie und ihre Mitstreiter steckten nun all ihre Energie in die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung, sagt Christina Müller. Sie habe oft erlebt, dass es bei konkreten Projekten dann doch Widerstand aus den Bezirksbeiräten oder der Verwaltung gebe: „Wenn eine Straße für den Radverkehr umgebaut werden muss und dadurch einige Parkplätze wegfallen, hören wir immer wieder: ‚Hier nicht!‘“.
Woran es in Stuttgart jedenfalls nicht fehlt: Radfahrer, die sich bessere Bedingungen wünschen. 2016 seien zwischen 400 bis 600 Menschen bei der Critical Mass mitgefahren, im Sommer 2024 sollen es bereits bis zu 2000 Personen gewesen sein.