Im Vorjahr gewann John Degenkolb den Klassiker von Paris nach Roubaix. Foto: EPA

Nach einem Horrorcrash mit dem Auto einer Geisterfahrerin kämpft Radprofi John Degenkolb um sein Comeback. Der Klassiker Paris-Roubaix an diesem Sonntag kommt für den Vorjahressieger aber noch zu früh.

Stuttgart - Das Siegerschild aus Messing im völlig veralteten Duschtrakt des Velodroms von Roubaix zeugt davon, dass er vor kurzem noch ganz oben war. „Degenkolb J., Vainqueur 2015“ – so ist es dort an einer der reichlich antiken, weil steinernen Duschzellen auf Höhe der Augen abzulesen. John Degenkolb hat im vergangenen Frühjahr mit seinem Erfolg bei Mailand-Sanremo sowie dem Triumph beim Kopfsteinklassiker von Paris nach Roubaix also auch den Status eines Radstars eingefahren. Anfang Januar durfte er selbst sein Namensschild im berühmtesten Waschsalon des Sports anbringen. Bei einem Rennen wie dem durch die „Hölle des Nordens“ ist dies für einen Radprofi ein Zeichen ewigen Ruhms – das zählt in diesem Fall mehr als der Siegerscheck.

Nur einige Tage später ist der deutsche Radsportler des Jahres 2015 aber mit einem lauten Knall jäh gestoppt worden. Wenn das Peloton an diesem Sonntag (10 Uhr/Eurosport) in Compiègne an den Start geht, um bei Staub oder Matsch die Pavés, diese elenden Schüttelpassagen aus Kopfsteinpflaster, zu bezwingen, wird der Vorjahressieger verletzt fehlen. Er ist nur Fan, wenn spätestens im Velodrome die Entscheidung um Platz eins per Sprint fällt.

Ein Frontalcrash mit einer Geisterfahrerin

John Degenkolb, der Kapitän des deutschen Rennstalls Giant-Alpecin, ist am 23. Januar mit fünf Teamkollegen an der spanischen Ostküste bei Calpe auf einer Trainingsfahrt mit gutem Tempo unterwegs gewesen, als es in einer Kurve zu dem kam, was der 27-Jährige heute einen „Wahnsinns-Horrorcrash“ nennt. Eine 73-jährige Britin befuhr mit ihrem Van als Geisterfahrerin die linke Fahrspur, so dass der Frontalunfall für die sechs Radprofis unausweichlich war.

Fünf Operationen in Kliniken in Valencia und Hamburg hat allein der schwer verletzte John Degenkolb seit jenem verhängnisvollen Crash über sich ergehen lassen müssen, der seither wie ein schwarzer Schatten über seiner glanzvollen Karriere liegt. Der Bruch am Unterarm wurde ebenso unter Vollnarkose versorgt wie die schweren Schnittwunden am Oberschenkel oder an der Oberlippe, über der Degenkolb bei Rennen traditionell sein Markenzeichen, ein dünn getrimmtes Bärtchen trägt. Am schlimmsten hat es den 27-Jährigen allerdings am linken Zeigefinger erwischt. Der hing stark zertrümmert wie ein lebloser Zipfel an der Hand. Inzwischen ist der Finger, auch dank einer Knochenentnahme an der Hüfte, wieder halbwegs stabilisiert. Weil auch die Durchblutung stimmt, ist eine Amputation momentan kein Thema mehr.

„Ich fange wieder bei Null an“, sagt ein ernüchterter Degenkolb dennoch Mitte März auf einer Pressekonferenz im Brauhaus Alt-Oberursel – die Schiene am Zeigefinger hatte er da in ein graues Tape gehüllt. Früher hat der gebürtige Thüringer in Frankfurt gewohnt; jetzt ist er mit Ehefrau Laura und dem 15 Monate alten Sohn Leo hinaus in den Taunus gezogen. Das für einen Radprofi interessante, weil bergige Terrain am neuen Wohnort hat er aber erst vor drei Wochen wieder vorsichtig vom Sattel seiner Rennmaschine aus erkunden können, weil der Heilungsprozess länger dauerte als erwartet. Alles geht weiterhin also ganz langsam – der vertraute Beruf, teils ein Hochrisikospiel bei Tempo 60 oder 70, er muss wieder neu erlernt werden.

Die Klassiker im Frühjahr kamen viel zu früh

Angedachte Starts bei den Frühjahrsklassikern, die kurz nach dem Unfall noch das erklärte Ziel waren, erwiesen sich jedenfalls bald als utopisch. „Es ist schrecklich, dieses wunderbare Rennen nur am Fernseher verfolgen zu können“, twittert der enttäuschte Degenkolb daher am Sonntag, als letztlich der Slowake Peter Sagan die Flandern-Rundfahrt gewinnt. Der Allrounder hat sich inzwischen ein neues Ziel gesetzt: Das ist die erfolgreiche Teilnahme an der Tour de France.

Auch mit der betagten britischen Autofahrerin, die den Unfall verschuldete, hat Degenkolb seinen Frieden gemacht. „Ich empfinde da keinen Hass“, sagt er, „auch sie ist ein Opfer, steht weiterhin unter Schock.“ Juristische Schritte haben Degenkolb und das Giant-Team dennoch eingeleitet. „Schließlich hat sie unser Leben völlig durcheinandergewirbelt“, sagt John Degenkolb, „sportlich und auch sonst.“