Die Donau ist die Landesgrenze. An ihr machen viele Behördenbefugnisse Halt. Foto: dpa

Die Stadt Ulm ist, zusammen mit dem bayerischen Neu-Ulm, seit Jahren Heimat islamistischer Radikaler und krimineller Rocker. Auch mutmaßliche Drahtzieher der Terroranschläge von Paris und Brüssel haben sich in Ulm getroffen. Das ist kein Zufall.

Ulm - Manche haben Angst. Andere Ulmer plagen Bedenken, was noch alles kommt. Und besondere Lokalpatrioten macht ärgerlich, dass immer neue hässliche Flecken die weiße Weste dieser Stadt verunzieren, kaum dass die alten ein wenig verbleicht sind. Mutmaßliche Drahtzieher der Terroranschläge von Paris und Brüssel haben sich, wie man inzwischen weiß, in Ulm getroffen. In der Stadt schießen seit Monaten gewaltbereite Rockergruppierungen aufeinander. Mitten in der altehrwürdigen Ulmer Innenstadt detonierte letzten Sommer vor einer Shisha-Bar, die Rockerbosse eröffnet haben, ein Sprengsatz. Nur durch Zufall gab es keine Verletzten. An den Küchentischen und den Gemüseständen der Wochenmärkte sind das Kardinalthemen. Die Ulmer Institutionen aber, allen voran die Stadtpolitik, tun so, als handle es sich um Raritäten der Wirklichkeit, aber nicht die Wirklichkeit selber. Es wird Zeit, die Probleme zu benennen.

Die Föderalismusfalle: Alle bekannten islamistischen Terroristen an der Donau, und ebenso führende Köpfe gewalttätiger Rockergruppen, haben bisher mit grenzübergreifenden Doppelstrukturen gearbeitet. Das galt für die Terrorpaten der ersten Generation wie für deren Nachfolger. In Neu-Ulm faszinierte zur Jahrtausendwende in einer Moschee mit dem scheinheiligen Namen „Multikulturhaus“ der ägyptischstämmige Immunbiologe Yehia Yousif alias Scheich Abu Omar mit Wutpredigten gegen den dekadenten Westen eine wachsende Schar junger Muslime. Drüben in Ulm arbeitete währenddessen das Rekrutierungsbüro der Radikalen mit dem nicht weniger irreführenden Namen „Islamisches Informationszentrum“. Es hatte zur Aufgabe, mit Hilfe der Druckerpresse kampflustige junge deutsche Männer für den Islam zu gewinnen und sie in Kampfgebiete wie Tschetschenien oder Pakistan zu vermitteln. „Denk mal islamisch“, hieß das Propagandablatt, das noch bis ins Jahr 2007 hinein auf Straßen und Plätzen in Ulm verteilt wurde. Die unbehelligte wachsende Radikalengemeinde genoss bald überregionalen Ruf. Auch der 9/11-Attentäter Mohamed Atta ist mehreren Zeugenaussagen zufolge vor den New Yorker Anschlägen in Neu-Ulm gewesen, um sich bei einem ägyptischen Arzt am Ufer der Donau behandeln zu lassen.

Protest nur von der bayerischen Europaministerin

Das Doppelspiel funktionierte, und es funktioniert immer noch. Weil die Länderpolizeien Baden-Württembergs und Bayerns auf ihre Hoheitsrechte pochen. Sie haben eine gefühlte Ewigkeit gebraucht, bis sie damals, in den Räumen der Polizeiinspektion Neu-Ulm, die gemeinsame Ermittlungsgruppe „Donau“ zur Bekämpfung der Radikalislamisten gründeten. Und es schien ihnen ein Akt der Erleichterung zu sein, als sie diese Gruppe Ende 2014 wieder auflösten. Die Begründung, der Platz im Inspektionsgebäude werde anderweitig benötigt, sowie der Verweis auf weitere fehlende Ermittlungsansätze hatte genügt. Immerhin protestierte die frühere bayerische CDU-Justizministerin, Ex-Oberbürgermeisterin von Neu-Ulm und aktuelle Europaministerin Beate Merk, die Auflösung sei ein „verheerendes Signal“ an die gewalttätige Szene. Bayern, muss man außerdem wissen, hat seine große Polizeireform schon vor Baden-Württemberg vollzogen. Neu-Ulm wird vom knapp 90 Autobahnkilometer entfernten Polizeipräsidium Schwaben mit Sitz in Kempten aus gesteuert, während das Ulmer Präsidium aktuell schwer damit beschäftigt ist, die Einverleibung der alten Direktionen Heidenheim, Göppingen und Biberach zu verdauen.

Die Halbgrößen aus dem Rockermilieu legen nicht weniger Geschmeidigkeit im Überschreiten der Ländergrenze an den Tag. So stammen zum Beispiel die Brüder B., Chefs der Gruppierung Rock Machine Blue, aus Neu-Ulm. Ihre Bordellgeschäfte machen sie in Ulm, aber sie waren wiederum in der Nähe, als 2012 in der Industriestraße von Neu-Ulm ein Konkurrent aus der Türsteherszene auf offener Straße erschossen wurde. Von einer weiteren gemeinsamen Ermittlungsgruppe ist sogar jetzt, da sich die Gewaltspirale mit Auftauchen der Bande „United Tribuns“ immer schneller dreht, nicht die Rede. Die Kriminellen betrachten den ganzen Donauraum als Handlungs- und Rückzugsort gleichermaßen. Die Polizeien aber haben die Landesgrenze im Kopf und sind mit Organisations- und Abstimmungsfragen beschäftigt. Der Ulmer Anwalt und langjährige frühere grüne Landtagsabgeordnete Thomas Oelmayer zum Beispiel spricht angesichts der Gewalt an der Donau vom „Preis des Föderalismus“, der in Ulm und Neu-Ulm bezahlt werde.

Terrorpläne beim Joggen an der Blau

Die Datenmauern: Im September 2007 sind in einem Ferienhaus in Oberschledorn drei Männer verhaftet worden, die mit selber gebauten Bomben US-Soldaten auf deutschem Boden töten wollten: die so genannte Sauerland-Gruppe. Es waren der Ulmer Student und Konvertit Fritz Gelowicz, Adem Yilmaz und Daniel Schneider. In der Türkei wurde zwei Monate später der abgetauchte Attila Selek verhaftet, Beschaffer von Sprengsätzen. Gelowicz und Selek waren Kumpels aus Ulmer Tagen, bewohnten zusammen eine Bude und steigerten sich bei Joggingläufen entlang des Flüsschens Blau – so erzählte es Selek als Zeuge in einem anderen Terrorprozess vor dem Oberlandesgericht Stuttgart - in ihre Gewaltphantasien. Beide hatten eifrig das „Multikulturhaus“ besucht und setzten dessen radikales Erbe nach der behördlichen Schließung der Moschee im Dezember 2005 als zweite Generation fort. Der Verhaftung im Sauerland war eine lange Beschattung durch deutsche Spezialkräfte vorangegangen. Die Stadt Ulm aber hatte dem Türken Selek, während die Terrorermittlungen durch die Bundesanwaltschaft gegen ihn bereits liefen, noch die deutsche Staatsbürgerschaft zuerkannt. Als der Terrorhelfer nach Verbüßung seiner fünfjährigen Haftstrafe abgeschoben werden sollte, widersetzte er sich juristisch mit Berufung auf seinen deutschen Pass. Vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen mussten schwäbische Behördenvertreter mit viel Mühe glaubhaft machen, sie seien von Selek während des Einbürgerungsverfahrens arglistig getäuscht worden.

Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe ermittelt gegen Ulmer Terrorverdächtige, aber vor Ort weiß niemand etwas: So dürfte sich auch erklären, weshalb die Werbertruppe des Islamischen Informationszentrums in Ulm bis kurz vor der eiligen Selbstauflösung im Oktober 2007 – also unmittelbar nach dem Platzen der Sauerland-Gruppe - noch unbehelligt in der Stadt unterwegs war. Kein Platzverweis durch die örtliche Polizei, keinerlei erkennbare Restriktionen – nichts. Wiederholt sich die Geschichte im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Paris-Attentäter Sallah Abdeslam? Er war im Oktober 2015 nachweislich ebenfalls in Ulm, holte mit einem Mietwagen mögliche Mittäter aus einem Hotel ab und kehrte mit ihnen in den Brüsseler Untergrund zurück. Belgische und französische Ermittler haben als einen der Mitfahrer Osama Krayem benannt, dem vorgeworfen wird, sowohl an den Anschlägen von Brüssel wie auch von Paris beteiligt gewesen zu sein. Der Ulmer Polizeipräsident Christian Nill erklärt dazu, Details der Ermittlungsarbeit seien ihm unbekannt. Das sei „Sache der Bundesanwaltschaft“.

Kein Debattenforum, nirgendwo

Der Klub der Schweiger: Nie in den vergangenen zehn Jahren hat es in Ulm einen einzigen Versuch der Lokalpolitik gegeben, den heimischen Radikalismus in irgendeiner Form öffentlich zu thematisieren. Bis auf eine Ausnahme: Der Grüne Oelmayer hatte noch vor dem Auffliegen der Sauerland-Gruppe einmal zum Informationsabend ins Ulmer Museum geladen und den damaligen Stuttgarter Verfassungsschutzpräsidenten Johannes Schmalzl dazugebeten. Unter anderem wurde ausgeführt, die Terroristen hätten Ulm aufgesucht, weil die Stadt logistisch so günstig liege, weil sie sich geostrategisch im Herzen Europas befinde und dergleichen mehr. Doch viele andere süddeutsche Städte besitzen nicht nur Autobahnanschlüsse und einen ICE-Bahnhof, sondern liegen auch viel näher an Flughäfen. Zudem zeigten die Vorgänge der zurückliegenden Jahre, dass für die Ulmer Terrorpaten eine gute Tarnung erheblich wichtiger war als unbegrenzte Mobilität. Oelmayer jedenfalls hat keine Nachahmer als Krisenmoderator gefunden. Heute sagt er über den Radikalismus: „Wenn wir so tun, als gäbe es das nicht, rückt das immer näher.“ Es fehle nicht nur am Sensus der Stadtverwaltung, sondern „auch der Landespolitik“.

Nicht die schnellen Straßen begründen Ulms Radikalenproblem mit, sondern die unwirkliche Ruhe, die über jede neue Schreckensnachricht gebreitet wird. „Es ist schwierig zu leugnen, dass wir uns nie damit beschäftigt haben“, sagt der grüne Ulmer Fraktionsgeschäftsführer Michael Joukov. Er könne aber nicht erkennen, was ein Gemeinderat konkret bewirken solle. Der frisch gewählte Ulmer CDU-Oberbürgermeister Gunter Czisch warnt sogar vor einer Panikmache, deren Leidtragende die örtlichen Flüchtlinge werden könnten. Für ihn sind Schulangebote, Ausbildungsplätze oder niederschwellige Angebote in der Jugendarbeit der richtige Weg, um ein „Abdriften junger Menschen in radikalisierte Denkmuster möglichst zu verhindern“. Das mag richtig sein. Aber gegen langjährig verfestigte Szenestrukturen ist Prävention nicht mehr genug.

Der Oberbürgermeister warnt vor Stigmatisierungen

Was die Verbindung zu den Attentätern von Brüssel und Paris mit Ulm anbelangt, ist für Czisch alles „unbewiesen“. Er sagt: „Nach derzeitigem Stand gibt es keinen Zusammenhang zwischen den Vorgängen in der Vergangenheit und den jetzigen Vorfällen, die Indizien deuten auf Ulm als zufällig gewählten Ort.“ Das hat Anfang des Monats, fast wortgleich und mit nicht weniger tapferem Optimismus, auch der Polizeipräsident Nill so gesagt. Abdeslam hätte „genauso gut in Stuttgart oder Karlsruhe“ auftauchen können. Der Einwand sei erlaubt, dass Stuttgart oder Karlsruhe bisher nicht als deutsche Terroristendrehscheibe Nummer eins aufgefallen sind.

Das ist das Problem: Ihr jahrelang geübtes Schweigen über den Terrorismus und die immer weiter ausufernde gewalttätige Bandenkriminalität halten die Institutionen für einen Akt der Verantwortung, nicht der Verdrängung. Zumindest tun sie so. Die Ulmer Kirchen und die großen Bildungsträger wie die Volkshochschule schweigen mit. Zuständig sind immer die anderen. Wo aber kann Konspiration besser gedeihen als an Orten, an denen kein deutliches Nein hörbar wird? Kein Protest? Wo niemand aufsteht und so laut ruft, dass es auch in den klügsten Verstecken der Kriminellen zu hören ist: Es reicht! Verschwindet! Es wird Zeit, dass sich die Ulmer Stadtgesellschaft endlich so weit politisiert, dass sie fähig ist, Toleranz von müder Selbstbezogenheit zu unterscheiden. Dass sie Debattenfähigkeit und Wehrhaftigkeit entwickelt. Denn das haben die vergangenen zehn Jahre gezeigt: Es wird kein Ritter kommen, um die radikalen Szenen dauerhaft zu vertreiben. Ulm muss endlich selber damit anfangen.