Radfahren in Stuttgart: ein kontroverses Thema Foto: Lichtgut/Piechowski

Es gibt immer mehr Radler. Man kann sie zählen, ebenso wie die steigende Zahl von Unfällen mit Radbeteiligung. Mit unserer Serie „Radfahren in Stuttgart“ beleuchten wir den Megatrend – und machen Stuttgarts Straßen mit zwei Datenprojekten hoffentlich ein bisschen sicherer.

Stuttgart - Wer nicht an einen Fahrradtrend glaubt, sollte sich mal nachmittags im Unteren Schlossgarten niederlassen und die vorbeisausenden Räder zählen. Selbst bei weniger schönem Wetter wird man kaum hinterherkommen. An einem durchschnittlichen Tag im April 2021 haben 3500 Zweiräder auf der König-Karls-Brücke den Neckar überquert. Mehr als 1000 rollen täglich durch die zur Fahrradstraße erklärte Tübinger Straße – nur unwesentlich weniger durch die Böblinger und die Lautenschlagerstraße.

Schon vor der Pandemie berichteten Fahrradhersteller und -händler von Rekordumsätzen. Der Pandemiefrühling 2020, der von der Angst vor dem Virus geprägt war, aber auch ideales Radfahrwetter bereithielt, gab der umweltfreundlichen und coronaresistenten Fortbewegung auf zwei Rädern weiteren Schwung. Längst spürt man es auf den Straßen: Dem Fahrrad gehört nicht erst die Zukunft, sondern bereits die Gegenwart.

Da fügt es sich, dass man sich vom Modell der autogerechten Stadt verabschieden möchte. Allerdings klagen die Stuttgarter Radfahrer, dass es so schnell dann doch nicht vorangeht. Die Pop-up-Radspur aus dem vergangenen Jahr auf der Theodor-Heuss-Straße ist wieder verschwunden und bisher nicht adäquat ersetzt worden; zumal andere Städte 2020 viel mehr neue Radwege ausgewiesen haben als die Landeshauptstadt Stuttgart.

Zwar steckt die Stadt Fördermittel etwa in die Regio-Rad getauften Leihräder. Trotzdem ist die Stimmung unter den Stuttgarter Radfahrern alles andere als gut. Beim „Fahrradklimatest“ des Radfahrverbands ADFC gaben 1644 Befragte der Landeshauptstadt die Schulnote 4,2. Gar ein Mangelhaft verteilten sie für die Wegeführung an Baustellen, die Ampelschaltungen, die Stuttgarter Radwege sowie das Ahnden von falsch parkenden Autos, die sich Radfahrern in den Weg stellen.

Die Szene mischt sich ein

Fahrradfahrer gelten nicht unbedingt als leicht zufriedenzustellende Klientel. Doch gerade die Stuttgarter Szene mischt sich seit Jahren erfolgreich in die Stuttgarter Verkehrspolitik ein – der juristisch gescheiterte Radentscheid, dessen inhaltliche Forderungen längst in der Kommunalpolitik angekommen sind, ist dafür ein gutes Beispiel.

Es tut sich also etwas in der Stadt. Doch der Fahrradboom wirft auch Fragen auf: Auf welchen Wegen sollen die vielen Radler fahren? Muss das Verhältnis von Fahrrad und Auto neu austariert werden? Oder, ganz lebenspraktisch: Welches Fahrrad ist das richtige für mich?

Neue Serie

Solche Fragen versuchen wir mit unserer neuen Serie „Radort Stuttgart“ zu beantworten. Jede Woche werden wir uns schwerpunktmäßig einem Thema widmen – am lokalen Beispiel aufgezogen, aber stets über den Kesselrand hinaus gedacht. Schließlich ist Radfahren nicht nur in Stuttgart ein Thema, sondern auch in der Region und dem Land mit seiner weiterhin grün geführten Regierung.

Der Radort Stuttgart ist allzu oft auch ein Tatort. Neben drei Fußgängerinnen und einem Motorrollerfahrer sind 2020 ein Radfahrer und ein Pedelecfahrer im Straßenverkehr der Landeshauptstadt getötet worden. Rein statistisch finden jeden Tag fast zwei Unfälle mit Radfahrer- oder Pedelecbeteiligung statt. Die Tendenz ist steigend, und in Stuttgart fiel die Zunahme im Coronajahr 2020 deutlich stärker aus als landesweit.

„Unfälle mit Beteiligung des Radverkehrs führen oftmals zu schweren Unfallfolgen“, schreibt die Stuttgarter Polizei in ihrer Unfallstatistik für das zurückliegende Jahr. Mehr als ein Drittel aller Schwerverletzten entfällt demnach auf den Radverkehr. Das plötzliche Aufschlagen von Autotüren („Dooring“) sowie gedankenlos ein- und abbiegende Autofahrer zählen zu den Hauptgefährdungen für Radfahrer auf den Straßen.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass im Falle der beiden verstorbenen Radfahrer „ihr eigenes Fehlverhalten ursächlich für das Unfallgeschehen war“, so die Polizei – so wie es in einer knappen Mehrzahl aller Fahrradunfälle der Fall ist. Vor allem zu schnelles Fahren, eine missachtete Vorfahrt, Fehler beim Abbiegen sowie Radfahren unter Alkoholeinfluss tauchen in der Polizeistatistik als Unfallursachen auf. Zudem ist das (freiwillige) Tragen eines Schutzhelms „nicht sehr ausgeprägt“, bemängelt die Polizei.

Zwei Datenprojekte für mehr Sicherheit

Wie sicher die Straßen von Stuttgart und der Region sind, kann man messen – und das tun wir mit dem Radort-Projekt. Möglich macht es die „Kesselbox“, mit der Freiwillige den Überholabstand messen – wir suchen noch Radlerinnen und Radler, die sich daran beteiligen (siehe separaten Text). Außerdem identifizieren wir die Unfallschwerpunkte in der Region Stuttgart – und schauen ganz genau hin: Warum häufen sich hier die Crashs? Was tut die Verwaltung bereits dagegen, was müsste sie zusätzlich leisten?

Bei diesen und allen anderen Fragen freuen wir uns über Ihre Anregungen und Ihre Meinung. In regelmäßigen Abständen veröffentlichen wir Leserzuschriften und bieten ein Forum für den Dialog – bewusst auch zwischen den verschiedenen Verkehrsteilnehmern. Dabei sollen die unterschiedlichen Anliegen zur Sprache kommen. Auch wenn Radfahren im Trend liegt, wird es auf absehbare Zeit nicht „Fahrrad oder Auto“ heißen, sondern „Fahrrad und Auto“.