Er macht Kammermusik nach den Regeln des Pop Foto: Opus

Er ist ein Querdenker und macht Kammermusik nach den Gesetzmäßigkeiten des Rap: Chilly Gonzales hat der Grenze zwischen klassischer und Unterhaltungsmusik den Kampf angesagt. Das ist die Basis, auf der sich Chilly Gonzalez mit einer Musik zwischen allen Stilen und Genres auf geniale Weise austobt.

Chilly Gonzales ist der rappende Hip-Hop-Grandmaster unter den Pianisten, das klassische Genie unter den Rappern. Wie er damit durchkommt? Ganz ausgezeichnet. Das ist seinem unbestreitbar gewaltigen Talent als Komponist, Pianist und Texter zu verdanken, auch sein nicht minder gewaltiges Ego hat sicherlich seinen Anteil daran. Gonzales ist kein Wichtigtuer, kein Prahler. Das hat der gebürtige Kanadier nach einem Grammy und unzähligen weiteren Preisen nicht mehr nötig. Er weiß, dass er genial ist, setzt dieses Wissen aber lieber überzogen selbstironisch in Stücken ein, in denen er sich mit gewitzten Zeilen selbst wahlweise als Superheld oder Superschurke inszeniert. Der auch mal ein 27-stündiges Klavierkonzert gibt, um sich von alten Zwängen zu befreien, und der darin die Geburtsstunde seines eigenen Superheldenmythos sieht.

Chilly Gonzales, der Frank Zappa der postmodernen Kammermusik? Ein Kompliment, das den 43-Jährigen ehrt, wie er offen zugibt: „Zappa war ein Genie, das sein ganzes Leben kompromisslos der Musik widmete, das sie über alle Maßen respektierte und stetig an ihr herumtüftelte wie an einer Erfindung.“ „Dennoch“, fährt er fort, „kann ich mir kaum eine Note seiner Musik anhören.“

Zumindest die Herangehensweise passt: Wie der musikalische Diktator Zappa nutzt auch Gonzales seine Musik als Werkzeug, als Versuchslabor, in dem er forscht, wie sich verschiedene Stile unter einen Hut bringen lassen. Gonzalez ist allerdings ungleich umgänglicher als Zappa. Seine Rastlosigkeit lässt Jason Charles Beck, wie er eigentlich heißt, in den letzten 25 Jahren einen Streifzug durch zahllose Genres unternehmen. 1990 als Frontmann einer Alternative-Rock-Band, bald darauf als Rapper, Electro-Produzent, immer wieder als Pianist.

Chilly Gonzales: Exzentrischer wird es am Klavier nicht

Bis heute setzt sich Chilly Gonzalez im Bademantel jeden Morgen eine Stunde ans Piano. „Dazu kaufe ich stapelweise neue Notenblätter und spiele Stücke, die ich noch nie zuvor gespielt habe“, sagt er. „Ich spiele sie einmal durch und dann nie wieder, genieße das Gefühl, wie all diese neue Musik durch meinen Körper fließt.“ In seinem Kölner Zuhause steht entgegen vielen Vermutungen nur ein Piano, ein Bechstein-Klavier, mit dem er auch seine Alben aufnimmt. „Das mag untypisch sein, doch ein Flügel kann nicht diesen intimen Klang erzeugen, klingt schnell mal distanziert, weit weg.“

Einer wie Gonzales möchte, dass man den Tastenanschlag seiner breiten Finger hört, möchte das Gefühl erzeugen, dass die Hörer neben ihm sitzen. Bei seinen Konzerten ist das allerdings anders. „Meine Auftritte nutze ich für Dinge, die ich auf einem Album niemals tun würde“, nickt er lächelnd. „Dazu braucht es einen Flügel, ein richtiges Kriegspferd, auf das ich auch mal eindreschen kann.“ Jeder, der ihn bereits live sehen konnte, weiß, dass er das ernst meint. Exzentrischer, unterhaltsamer und ungewöhnlicher wird es am Klavier nicht.

Dieses Instrument ist allem musikalischen Interesse zum Trotz bis heute sein Herzstück. Man kennt ihn lümmelnd auf dem Klavierhocker, die Hände schlagbereit in die Höhe gereckt, der Blick seltsam entrückt. Eine Passion, die er seinem Großvater zu verdanken hat – selbst wenn der heute nicht immer einverstanden mit der Herangehensweise seines Enkels wäre. „Als ungarischer Jude war es sicher nicht seine dümmste Idee, in den Vierzigern nach Kanada zu emigrieren“, meint Gonzalez lakonisch. Gut kann er sich daran erinnern, wie ihm der Großvater vom alten Europa, paradoxerweise auch von Richard Wagner vorschwärmte. Dieser Großvater war es, der ihn Respekt vor dem Piano und den großen Köpfen der klassischen Musik lehrte, gleichzeitig aber auch in arge Bedrängnis brachte. „Als ich dank MTV all diese wunderbare Popmusik für mich entdeckte, wollte ich nicht am Piano sitzen, sondern mit Lionel Ritchie an der Decke tanzen. Mein Großvater“, erinnert sich Gonzales, „fand das gar nicht lustig, er war dagegen und erachtete Popmusik als minderwertig gegenüber der klassischen Musik. Das fand ich bescheuert.“

„Chambers“ kommt ohne Raps und Beats aus

Es sollte eine entscheidende Weichenstellung für seine folgende Karriere sein. Für ihn schloss es sich nicht aus, dass es Genies aus der Vergangenheit und aus der Gegenwart gab. Damit eckte er früh an. „Ständig unterbrach ich meinen Klavierunterricht, geriet mit meinen Lehrern in heftigen Streit. Diese Hassliebe hält bis heute an und erklärt auch meinen Kampf gegen die Grenzen zwischen ernster und populärer Musik.“ Dieser Kampf ist die Essenz seines Wirkens. Hat man das verstanden, versteht man auch, weshalb er zu kammermusikalischen Arrangements rappt, weshalb er Beats unter Streicher legt. Fragt man ihn nach seiner Profession, bekommt man dem aktuellen, rein kammermusikalischen Album „Chambers“ zum Trotz stets dieselbe Antwort: „Ich bin zuallererst Pop-Musiker“, stellt der Musiker klar. „Wie effektiv Streicher eingesetzt werden konnten, stellte ich erstmals fest, als ich ‚Eleanor Rigby‘ von den Beatles hörte. Die Streicher übernehmen hier sogar die Rolle der kompletten Band – Schlagzeuger, Gitarrist und Bassist.“ Für Gonzalez war klar: Das musste er auch versuchen.

Sein neues Album „Chambers“ kommt ohne Raps und Beats aus, für ihn ist es dennoch ein Rap-Album, eingespielt mit kammermusikalischem Werkzeug. Wie er das angestellt hat, ist für ihn eine klassische „Was wäre, wenn?“-Frage. „Was wäre, wenn es beim Rap nicht ums Rappen ginge? Was, wenn Rap keine Drum-Machine bräuchte?“, fragt er. Nun, wahrscheinlich kommt tatsächlich ein solches Album dabei heraus. Ein Album, bei dessen Komponieren Gonzales einen geheimen Rap-Beat im Kopf hörte, wie er erzählt.

Vermitteln möchte er damit nur eines: Alle Musik ist gleich, entstehe bis heute nach denselben Gesetzmäßigkeiten wie im 16. Jahrhundert. „Deswegen sollten wir uns weniger auf die Grenzen und vielmehr auf die Gemeinsamkeiten konzentrieren“, unterstreicht Gonzalez, „auf eine Art musikalischen Humanismus. Menschen und Schimpansen sind zu 98 Prozent identisch. Die restlichen zwei Prozent sind also der angeblich große Unterschied?“