Esstörungen nehmen immer mehr zu. Dünn sein, gilt als das Ideal. Foto: dpa

Immer mehr junge Menschen leiden an Essstörungen wie Magersucht oder Bulimie. Die Zahlen steigen jährlich. Die Beratungsstelle Abas an der Lindenspürstraße hat deshalb eine wöchentliche, offene Sprechstunde für Jungen und Mädchen eingerichtet, die sich dort anonym informieren können.

S-West - Eine Mutter kam mit ihrer Tochter, weil der Kinderarzt sie angesprochen hat. Eine Lehrerin wollte eine ihrer Schülerinnen unterstützen. Oft bemerkt das Umfeld zuerst, das etwas nicht stimmt: Dass die Freundin extrem abgemagert ist, dass der Bruder sein Essverhalten völlig verändert hat. Laut dem deutschen Ärzteblatt leiden immer mehr junge Menschen in Deutschland unter einer Essstörung wie Magersucht, Bulimie oder Binge Eating Störung. Die Zahl der Betroffenen stieg bundesweit zwischen 2011 und 2015 um 13 Prozent an.

Deshalb hat die Anlaufstelle für Essstörungen (Abas) an der Lindenspürstraße 32 im Stuttgarter Westen im vergangenen November eine offene Sprechstunde für Jugendliche eingerichtet. Kostenlos und anonym können sich dort Jungen und Mädchen Hilfe holen. Immer donnerstags von 15 bis 16.30 Uhr steht die studierte Sozialpädagogin Marianne Sieler oder eine ihrer Kolleginnen als Ansprechpartnerin bereit. Das Angebot finanziert sich über Spenden und Fördermittel.

Gleich beim zweiten Termin sei auch eine Besucherin gekommen, erzählt Sieler und ergänzt: „Jugendliche sind ja oft alleine mit ihren Fragen und deshalb dankbar über Ansprechpartner.“ Die Sprechstunde steht auch Teenagern offen, die sich einfach um jemand in ihrem Umfeld sorgen.

Die Anlaufstelle für Essstörungen, die an den Verein Gesundheitsladen im Westen angedockt ist und sich im gleichen Gebäude befindet, hilft nicht nur direkt Betroffenen. Neben einer Telefon- und E-Mailberatung bietet die Einrichtung Gruppenangebote für Eltern oder speziell für Väter an. Die Hürde, dort hinzugehen, ist aber oft hoch. Oft gestehen sich Menschen mit einer Essstörung ihr Problem selbst lange nicht ein; und wenn, dann ist die Scham groß. Mit der offenen Sprechstunde soll die Hürde, sich Hilfe zu holen, sinken. Aus Sielers Sicht ist das dringend nötig: „Essstörungen nehmen stark zu, die Betroffenen werden immer jünger.“

Die Betroffenen werden immer jünger – extrem dünn sein, gilt als Ideal

Dass die Pubertät früher einsetzt, ist für Sieler nur ein Grund. Sie hält eher das gängige Schönheitsideal – sehr mager zu sein – für ein Problem. Natürlich entwickle sich eine Essstörung aufgrund vieler Prämisse, aber der Einstieg erfolge oft über die Unzufriedenheit mit der Figur und Diätversuchen. Kommen dann seelische Probleme wie Mobbing, Liebeskummer oder Probleme in der Familie dazu, rutschen gerade Jugendliche, die in ihrer Persönlichkeit noch nicht so gefestigt sind, leicht in eine pathologische Essstörung ab.

Und noch nie war in unserer Gesellschaft Ernährung so ein wichtiges Thema. Vegan, vegetarisch, gluten- oder laktosefrei – fast jeder hat ja irgendwas. In diesem ganzen Hype um das richtige Essen, gilt oft jemand mit ein paar Pfunden zuviel auf den Hüften nicht nur als zu dick, sondern auch als nachlässig. Man hat es ja selbst in der Hand – so wird es oft suggeriert. Wer dick ist, hat einfach nicht genug für sich selbst getan. Der lässt sich gehen. „Abnehmen bringt immer positive Rückmeldungen vom Umfeld, eine Gewichtszunahme meistens negative Kommentare“, sagt Sieler.

Etwa 80 Prozent der Menschen hätten ja schon „ein gezügeltes Esseverhalten“, sagt die Sozialpädagogin und Ernährungsberaterin. „Viele gestehen sich keine kleine Sünden zu und essen extrem wenig und sehr gesund.“ Vor allem Frauen fühlen sich unter Druck: Laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fühlen sich etwa 90 Prozent der jungen Mädchen und etwa 80 Prozent der erwachsenen Frauen mit ihren Körperproportionen unzufrieden und fühlen sich zu dick. Und auch bei Männern steigen die Zahlen an.

Wettbewerbe in sozialen Netzwerken nehmen groteske Ausmaße an

Das Ideal, möglichst dürr zu sein, nimmt in sozialen Netzwerken absurde und gefährliche Ausmaße an: Unter den Hashtags #proanorexic, #ugly oder #thin posten Mädchen und junge Frauen zum Beispiel Zitate des Magermodels Kate Moss wie „Nothing tastes as good as skinny feels“ (deutsch: „Nichts schmeckt so gut, wie dünn sein sich anfühlt.“) und geben sich Tipps, wie man ohne Essen Hungergefühle überwindet. Unter den Hashtags #thigh gap, #A4-waist oder #collarbonecallenge spornen sie sich zum Abmagern an.

Sie halten sich nur für attraktiv, wenn die Lücke zwischen den Beinen zu sehen ist (thigh gap) oder auf den Schulterknochen Münzen ablegen kann (collarbone challenge). „Sie malträtieren ihren Körper für diesen Wettstreit“, sagt Sieler, Sie sieht diese Entwicklung „sehr kritisch“: Ab einem gewissen Alter – meist nach Vollendung der Pubertät – sei es fast unmöglich diesen Anforderungen zu entsprechen – und dabei noch gesund zu sein.

Junge Mädchen propagieren in sozialen Netzwerken Magersucht als Lifestyle

Der eigene Körper wird regelrecht ausgemergelt, um dem verzerrten Körperbild zu entsprechen. Junge Mädchen mit Fakennamen propagieren leichtfertig Magersucht und Bulimie als Lebensstil. „Dabei können die Krankheiten schnell lebensbedrohlich werden“, sagt Sieler. Instagram hat lange versucht, gegenzusteuern und diverse Hashtags gesperrt. Vergeblich.

In der Sprechstunde und in der Beratung zeigt Marianne Sieler Auswege auf, vermittelt zum Arzt oder zum Psychologen. „Wir haben auch ein großes Netzwerk in der Stadt“, sagt Sieler. Da Plätze in der ambulanten Therapie und in der Klinik rar sind, hilft die Beratungsstelle auch mit Gesprächen aus, um die Wartezeit auf einen Therapieplatz zu überbrücken.

Beratung Die Anlaufstelle für Essstörungen (Abas) ist ein Teil des Mädchen- und Jungengesundheitsladen im Westen, Lindenspürstraße 32. Die offene Sprechstunde für Jugendliche mit Essstörungen ist immer donnerstags von 15 bis 16.30 Uhr. Termine sind auch außerhalb der Sprechstunde möglich.

Angebote Neben der persönlichen Beratung bietet Abas verschiedene Gruppenberatungen an. Es gibt eine Gruppe für Mädchen ab 16 Jahren mit Essstörungen wie Bulimie und Magersucht sowie eine Gruppe für Eltern, deren Kind unter einer Essstörung leidet. Gruppen starten regelmäßig neu. In Kürze gibt es eine Gruppe, die sich speziell an Väter richtet. Weitere Informationen gibt es über E-Mail an info@abas-stuttgart.de, unter der Telefonnummer 0711/ 30 56 85 40 oder über www.abas-stuttgart.de zu erreichen.