Mehr als zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Panikattacken und Phobien. Foto: Ingo Rechenberg/ Frankfurter Senckenberg-Forschungsinstitut/dpa

Flugangst, Spinnenphobie, Panik vor Menschenmassen: Angststörungen sind unter den psychischen Erkrankungen am weitesten verbreitet. Dabei sind sie in der Regel sehr gut behandelbar.

Stuttgart - Es gab eine Zeit, in der konnte Ulrike Parthen nicht einmal mehr das Haus verlassen. 33 Jahre lang litt die Autorin und Werbetexterin aus Crailsheim an Angst- und Panikattacken. Das erste Mal übermannte sie die Angst bei einem Stadtfest, erzählt Parthen. Damals war sie 15 Jahre alt. „Mir ist auf einmal übel geworden“, erinnert sich die heute 49-Jährige. „Ich hatte Angst, mich den ganzen Leuten erbrechen zu müssen.“

Mehr als zehn Millionen Menschen in Deutschland leiden unter Angststörungen, sie führen ein Leben mit wiederkehrenden Ängsten und Panikattacken. Die konkreten Auslöser sind dabei ganz unterschiedlicher Natur: Während die einen unter Flugangst leiden, haben die anderen Panik vor Spinnen oder Blutabnahmen. So sehr, dass es sie in ihrem Leben einschränkt. Angststörungen sind unter den psychischen Erkrankungen in Deutschland am weitesten verbreitet. Doch längst nicht alle Betroffenen suchen einen Arzt auf. Angst ist zwar eine Volkskrankheit – aber eben auch noch immer ein Tabuthema: Denn wer möchte in einer Leistungsgesellschaft öffentlich schon Schwäche zeigen?

„Angst ermöglicht das Überleben erst“

Dabei ist Angst im Grunde ein gutes und wichtiges Gefühl: Sie hilft uns dabei, Risiken einzuschätzen und zu vermeiden. „Angst ermöglicht das Überleben erst“, betont Fred Christmann, Psychologe bei der Stiftung Psyche in Stuttgart. Seinen Patienten rät er, das Gefühl als Ressource zu sehen statt als Einschränkung. Doch wer zu ihm kommt, möchte die Angst meist ganz loswerden. „Dabei ist das überhaupt nicht möglich“, sagt er. „Furcht ist eine im Körper angelegte Reaktion auf Bedrohungen.“ Bei einem Überfall zum Beispiel wird der ganze Körper in Bruchteilen von Sekunden in Alarmbereitschaft gesetzt. Das Herz schlägt schneller, die Muskeln spannen sich an. Das ist in einer Bedrohungssituation auch durchaus sinnvoll, nur so kann man schnell vor einem Angreifer davonlaufen. Bei manchen Menschen hat die Angst jedoch keinen tatsächlichen Anlass: Das Gefühl entsteht im Kopf, durch die eigenen Gedanken – nicht aus einer bedrohlichen Situation heraus. Und das kann auf Dauer sogar die Gesundheit schädigen.

Für das Angstgefühl ist im Gehirn hauptsächlich der sogenannte Mandelkern, die Amygdala, zuständig. Wird er über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder in Alarmbereitschaft gesetzt, kann das unter anderem zu einem erhöhten Blutdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und chronischen Entzündungen führen.

Woher die Angst rührt, kann selbst ein Psychotherapeut nicht immer herausfinden. „Ängstlichkeit ist ein angeborenes Persönlichkeitsmerkmal“, weiß Fred Christmann. Ob ein Mensch als Erwachsener von seiner Angst beherrscht wird oder nicht, hänge aber vor allem von seinen Erfahrungen in der Kindheit ab – und von seiner Sicht auf sich selbst und die Welt. „Es kommt darauf an, wie wir mit unserer frühen Prägung und unserer Veranlagung umgehen“, erklärt Christmann. Kinder, sagt er, übernehmen häufig die Ängste Erwachsener. Wenn ein Fünfjähriger immer wieder beobachtet, wie sein Vater beim Anblick eines großen Hunds erschrickt, kann es gut sein, dass auch er selbst irgendwann Furcht vor dem Tier zeigt. Doch ganz so einfach ist die Herleitung des Auslösers einer Angststörung meist nicht.

„Das hat mich verdammt einsam gemacht“

Ulrike Parthen weiß bis heute nicht, was der Grund für ihre Panikattacken ist. Doch auch sie vermutet ihn in der Kindheit. Bei ihr wurde die Angsterkrankung „sehr schnell sehr intensiv“, sagt sie. Drei Jahre nach dem Stadtfest stellten sich die Übelkeit und die Kopfschmerzen ein, lange bevor sie das Haus verlassen wollte. Also blieb sie daheim. „Das hat mich verdammt einsam gemacht.“

Die meisten Angstpatienten neigen dazu, unangenehme Situationen zu umgehen. Eine logische Reaktion – die die Betroffenen aber sehr stark in ihrem Leben einschränkt. „Viele Angstpatienten haben die Sorge, dass sie früher sterben“, weiß Fred Christmann. „Dabei sind gerade sie Meister im Überleben – denn sie schonen sich oft und vermeiden riskante Situationen. Sie sind in der Regel nicht diejenigen, die bei einem Abenteuer umkommen. Sie erleben ja gar keine.“

Es geht darum, die eigenen Gedanken zu beeinflussen

Und das, obwohl eine Schonung in den meisten Fällen nicht notwendig ist. „Ich weiß nicht, wann ich mich zuletzt erbrechen musste“, sagt Ulrike Parthen. „Und doch hatte ich lange Todesängste davor.“ Die Scham, vor anderen Menschen die Kontrolle zu verlieren, beherrschte drei Jahrzehnte lang ihr Leben. Ein Weg, um die eigene Erkrankung wirklich in den Griff zu bekommen, ist die Konfrontation. Indem sie sich der Furcht einflößenden Situation aussetzen, lernen die Patienten, dass ihre Angst nicht real ist, dass die Panik sie nicht umbringt. Je öfter sie sich erfolgreich ihrer Furcht stellen, desto mehr rückt die Angst in den Hintergrund. Desto mehr wächst das Gefühl, die Situation erfolgreich bewältigen zu können. „Es geht letztlich darum, die eigenen Gefühle und Gedanken zu beeinflussen“, erklärt Christmann. „Und in der Folge anders mit ihnen umzugehen.“

Das schafft tatsächlich ein Großteil der Patienten. Angststörungen sind in der Regel sehr gut therapierbar. Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer sind bis zu 80 Prozent der Betroffenen mit Platzangst und Panikstörungen nach einer Psychotherapie frei von Angstanfällen. Auch Ulrike Parthen hat ihre Angstgefühle inzwischen angenommen – und einen Weg gefunden, mit ihnen zu leben. „Ich habe die Hoffnung zwar aufgegeben, dass ich einmal komplett angstfrei leben werde“, sagte sie vor einiger Zeit auch in der SWR-Talkshow „Nachtcafé“. Doch in einem Fernsehstudio vor Publikum über ihre Erkrankung zu sprechen, war für sie vor einigen Jahren noch unvorstellbar.

So stellen sich Betroffene ihrer Furcht

Therapie Betroffene sollten sich nicht mit ihrer Angst zurückziehen und diese zu Hause pflegen, sagt der Stuttgarter Psychologe Fred Christmann. Im Rahmen einer Verhaltenstherapie setzt er auf die Konfrontation.

Konfrontation Seine Patienten setzt Christmann erst einmal nur im Rollenspiel oder in der Vorstellung der Furcht einflößenden Situation aus. Hat jemand etwa Flugangst, entwickelt Christmann ein Szenario, in dem möglichst alle Sinne angesprochen werden: Was denkt der Patient, was fühlt er, wenn er auf dem Weg zum Flughafen ist? Wie riecht es dort? Was sieht der Patient, was hört er?

Lernen Mithilfe der Übung soll der Patient lernen, auf das Hier und Jetzt zu achten, statt schon lange vor der tatsächlichen Stresssituation in Panik zu verfallen – etwa auf dem Weg zum Flughafen. Dabei helfen ihm zum Beispiel Atemübungen. Darüber hinaus soll der Patient Selbstvertrauen und Kompetenzen erwerben, um sich seiner Angst künftig allein stellen zu können. Bei der Flugangst gehört dazu etwa das Wissen, wie man sich bei Turbulenzen oder beim Start der Maschine ablenken kann. „Es geht darum, in einer Stresssituation die Perspektive zu wechseln und anders als gewohnt zu reagieren“, erklärt Fred Christmann.