Der Tastsinn ist der erste Sinn, der sich im leben eines Menschen entwickelt und der einzige, den man nicht abschalten, nicht gänzlich unterdrücken kann. Foto: Fotolia/©Photocreo Bednarek

Warum lassen sich manche Menschen die Hand auflegen? Wieso fühlen sich viele bei einer Massage so wohl? Forscher sagen: Das Bedürfnis, zu berühren und berührt zu werden, ist tief im Menschen verankert. Nur: Im Alltag berühren wir uns einander immer weniger.

Leipzig - Ein Streicheln vermag wohlige oder auch erotische Schauer über unseren Körper jagen, kann Kinder trösten und Erwachsene beruhigen, selbst Wütende manchmal besänftigen. In der Religion ist das Handauflegen, die segnende Berührung durch einen Priester, ein im Wortsinn berührendes Ritual. Pfarrer erzählen, sie hätten beim Segnen mit Handauflegen oftmals Tränen fließen sehen. Es sei ein sehr bewegender Moment.

Das Heilsame an der Berührung ist für Mediziner und Psychologen offenkundig: Berührungen wie Streicheln führen dazu, dass sich der Herzschlag beruhigt, dass der Blutdruck sinkt und der Pegel an Stresshormonen fällt und infolgedessen das Immunsystem besser funktioniert. Menschen, für die körperliche Berührungen selbstverständlich sind, gehen aus Stresssituationen weniger angespannt heraus, sie empfinden bei Verletzungen weniger Schmerzen, haben sie Wunden, heilen diese besser. Selbst Frühgeborene profitieren von steter Berührung: Sie legen schneller an Gewicht zu, wenn sie regelmäßig massiert werden.

Die Haut ist das größte Sinnesorgan des Menschen

Physiologisch ist diese Empfindsamkeit des Menschen gut zu erklären: So ist der Berührungssinn der erste Sinn, der sich bei einem Embryo entwickelt. Er erstreckt sich über die gesamte Oberfläche des Körpers – und die macht bei einem Erwachsenen eine Fläche von knapp zwei Quadratmetern aus. Die Haut ist somit das größte Sinnesorgan des Menschen. In ihr befinden sich Millionen hochempfindlicher Sensoren, die sich immer dann melden, wenn auf der Haut etwas geschieht – ein Lufthauch am Arm, ein Schweißtropfen auf der Stirn, eine Ameise am Fuß. Die Reize werden im Gehirn erst einmal beurteilt: Wichtiges wie Schmerzen wird in die dafür zuständigen Regionen weitergeleitet, Unwichtiges wie der Druck des Shirts, das eng anliegt, wird ausgeblendet.

Woher der Körper weiß, wie er die Signale bewerten soll, verstehen Sinnesforscher noch nicht im Detail. Fest steht aber, dass dies ein fortschreitender Lernprozess ist, der im Kindesalter beginnt. Warum sonst versuchen Babys instinktiv, nach möglichst vielen Dingen zu greifen? Doch nur, um ihre Umwelt buchstäblich besser zu erfassen, sagen Forscher.

Oft setzen Berührungen auch schwierige Gefühle frei

Doch weit mehr als der Seh- oder der Geruchssinn ist der Tastsinn mit der Psyche verwoben: „Es gibt kein Säugetier, dass sich ohne Berührung adäquat entwickelt“, sagt der Psychologe Martin Grunwald, Leiter des Haptik-Labors der Uni Leipzig dem Wissenschaftsmagazin GEO. „Es überlebt den Mangel an Kontakt nicht.“ Eine zarte Massage am besonders empfindsamen Oberbauchs von Babys kann beruhigen und Bauchweh lindern. Denn am Übergang vom Brustkorb zur Magengrube laufen diverse Nervenbündel zum Sonnengeflecht oder Solarplexus zusammen. Ein Schlag dorthin kann Schwindel auslösen oder bewusstlos machen; Massagen hingegen oder ein warme Hand an dieser Stelle lösen Wohlgefühl aus.

Oft setzen Berührungen auch schwierige Gefühle frei, die lange unterdrückt oder vermisst worden sind. Diese Erfahrung machen etwa Masseure oder Physiotherapeuten. Nicht selten verhärten nicht aufgearbeitete Emotionen die Muskeln im Nacken- oder Rückenbereich. Auch Körperpsychotherapeuten erleben immer wieder, dass Menschen tiefes Wohlgefühl verspüren, wenn sie an Bauch, Schulter oder Rücken mit der Hand berührt werden – einfach, weil es für sie angenehmen Stellen sind. Oder aber sie fangen an zu weinen – weil sie jahrelang ohne diese Berührung auskommen mussten.

Sinnesforscher sehen die zunehmende Berührungslosigkeit mit Besorgnis

Tatsächlich berühren die heutigen Menschen einander immer weniger. Das Fühlen wird vernachlässigt – etwa weil ein zu enger Körperkontakt oft nicht gesellschaftsfähig ist. Wobei es regionale Unterschiede gibt. Generell gilt: Menschen aus südlichen Ländern berühren sich häufiger als Menschen im Norden. 45 Zentimeter, haben Wissenschaftler herausgefunden, so nahe dürfen einem Deutschen fremde Menschen kommen, damit er sich nicht belästigt fühlt.

Sinnesforscher wie Grunewald sehen diese Entwicklung mit Besorgnis – könnte die Berührungslosigkeit dazu führen, dass psychische Erkrankungen weiter zunehmen. So hat der Psychologe einen Zusammenhang zwischen mangelndem Körperkontakt in der Kindheit und einer Magersucht im Jugendalter feststellen können.

Nicht umsonst ist in den vergangenen Jahren ein riesiger Markt der sogenannten Berührungsindustrie entstanden – mit Masseuren, Physiotherapeuten, Yoga- und Gyrotonic-Trainern und Spa-Therapeuten. Sogar manche Heiler in der Alternativmedizin versuchen, durch Handauflegen Schmerzen zu lindern – auf wissenschaftlich dünnem Boden. Sie versuchen ihren Kunden zu geben, was das moderne Leben einem oft vorenthält: Zeit, Nähe, Haut zum Anfassen.

Ärzte erfahren schon am Händedruck viel über ihre Patienten

Wie groß die Dosis an täglicher Berührung ausfallen muss, kann niemand sagen. Hinweise können nur Studien bei Menschenaffen geben: Schimpansen verbringen bis zu einem Fünftel ihrer wachen Zeit damit, ihre Genossen zu lausen.

Zunächst genügt vielleicht erst einmal der einfache Handschlag: Schon solche Berührungen transportieren eine Menge an Information. Einem erfahrenen und aufmerksamen Mediziner kann ein Händedruck manches über den Zustand eines Patienten verraten: Ist er schüchtern? Schwitzt er vor Aufregung? Ist er kraftlos oder schlecht durchblutet?

Ärzte, die aus Hygienegründen Patienten nicht die Hand nicht reichen wollen, verzichten auf ein gutes Diagnose-Instrument. Verstehen mag das so mancher Mediziner wie der Frankfurter Chirurg Bernd Hontschik nicht: „Das Verweigern des Händeschüttelns wegen irgendwelcher Keime halte ich für Unfug, schließlich gibt es Desinfektionsmittel.“