Vor dem Europäischen Parlament in Brüssel: eindrücklicher Protest gegen die Folter in der Welt Foto: AP

Die Vereinten Nationen haben Folter vor bald 70 Jahren geächtet; aus westlicher Sicht schien sie fast überwunden. Ein Irrtum, wie sich zeigt. Thomas Elbert, Psychologieprofessor aus Konstanz, hat sich mit dem Phänomen beschäftigt.

Herr Elbert, beim Stichwort Folter fühlt man sich an finsterstes Mittelalter erinnert. Trotzdem scheint sie heute in vielen Teilen der Welt allgegenwärtig: in Syrien, im Irak, in afrikanischen Staaten, in der Ukraine – in jüngster Vergangenheit sogar in den USA. Kann man von einer Rückkehr der Folter sprechen?
Wir sind in der glücklichen Lage, in einem Land zu leben, in dem seit 70 Jahren nicht mehr gefoltert wird und wo Folter gesellschaftlich geächtet ist. Wenn man aber bedenkt, dass in der Mehrzahl der Länder bis heute gefoltert wird, dass dort Menschen gezielt Gewalt, Qualen, Schmerz, Angst und massive Erniedrigung zugefügt wird, dann erscheinen Marter und Tortur eher als Regel denn als Ausnahme.
Wie passt dazu das Beispiel der USA?
Das eigentlich Schockierende ist, dass Gesellschaften, von denen wir sagen, sie sind kulturell, technisch und zivilisatorisch hochentwickelt, in Teilen zurückfallen können. So wurde durch den jüngsten offiziellen Folterreport des US-Senats bekannt, dass amerikanische Behörden brutalste Foltermethoden bei Befragungen einsetzten, wobei in keinem Fall irgendeine Information durch Folter gewonnen wurde, die nicht bereits durch andere Methoden bekannt war. In den USA haben sich nicht nur einzelne Personen an Folter beteiligt, es gibt dort auch eine gewisse Unterstützung durch weite Teile der Gesellschaft. Vor solchem Rückfall in mittelalterliche Zeiten sind auch wir Europäer nicht gefeit.
Warum wird gefoltert?
Primär, um Angst in der Bevölkerung oder in bestimmten Bevölkerungskreisen zu verbreiten, und weniger, um Informationen zu erpressen.
Die USA gaben vor, bei den Verhörmethoden im Gefangenenlager Guantánamo ging es um für sie sicherheitspolitisch wichtige Informationen.
Es ist wissenschaftlich gut belegt, warum man mit Folter keine relevanten Informationen erhält. Die Untersuchungen etwa in den CIA-Folterzentren bestätigen das. Die Gefangenen erzählen in ihrer Angst alles Mögliche. Womöglich haben sich die US-Behörden darüber Illusionen gemacht. Aber auch Behörden handeln nicht immer rational und lassen sich von Wut und Hass wie auch von Profitgier beeinflussen. Man muss sehen, dass sich in den USA rund um die Folter ein regelrechtes Geschäftsmodell entwickelt hat. Da wurden Unternehmen dafür bezahlt, dass sie Foltermethoden weiterentwickeln und systematisieren. Folter war in CIA-Handbüchern geregelt und von Beratern der Regierung juristisch legitimiert.
Das betrifft auch Ihre eigene Zunft . . .
. . . ja, leider. Psychologisches Wissen kann, wie alles Wissen, zu guten und zu schlimmen Zwecken eingesetzt werden. Angesichts des Terrors reagierte die US-Politik verkehrt, indem sie signalisierte: Wir sind zwar ein Rechtsstaat, aber wenn es sein muss, können wir auch unser ganzes Recht über Bord werfen. Auch wir können schrecklich und mörderisch sein. Dieses Signal war ein Riesenfehler. Denn mit Guantánamo haben sich die USA insbesondere im arabischen Raum und bei Moslems in aller Welt Hass zugezogen, der die amerikanische Nation über Generationen schädigen wird.
Wie bewerten Sie das, was in den USA passiert ist?
Das Folterprogramm der USA war in jeder Hinsicht eine Katastrophe – moralisch, ethisch und politisch. Über die Veränderungen der gesetzlichen Grundlagen in der Bush-Ära schrieb die „New York Times“, dass dieser Schritt die Grundpfeiler des Justizsystems auf eine Weise erodiere, „die jeder Amerikaner bedrohlich finden sollte“. Bedrohlich, weil es Säulen unserer Zivilisation zerstört und unsere Grundannahmen erschüttert: etwa die Annahme, die Welt würde stetig besser, eine Fortentwicklung der Menschheit sei unaufhaltsam und nicht reversibel. In Wahrheit kann es zumindest zu schlimmen Rückschritten kommen. Wir kennen das als Deutsche leider nur zu gut: Das Dritte Reich war ein gigantischer Rückschritt eines kulturell weit entwickelten Volkes. Auch deshalb schockiert uns die Nazizeit nach wie vor in besonderer Weise und lässt uns nicht zur Ruhe kommen.
Gibt es Möglichkeiten, einen einmal erreichten zivilisatorischen Fortschritt abzusichern?
Hinter allem steht die Biologie des Menschen; sie gibt bestimmte Wege vor. Auch deshalb müssen wir alle sorgsam sein und die Menschenrechte wahren. 2002 gab es in Deutschland kurzzeitig eine Diskussion um sogenannte Rettungsfolter; ein Polizist wurde dann letztlich verurteilt, weil er im Entführungsfall des Bankierssohns Jakob von Metzler dem mutmaßlichen Täter mit Folter gedroht haben soll. Selbst in diesem Fall konnte die erpresste Aussage das entführte Opfer nicht retten. Letztlich teilt die Mehrheit der Bevölkerung den Standpunkt, dass Folter mit nichts zu rechtfertigen ist. Gerade in diesen sehr schwierigen Fällen ist es wichtig, sich neu bewusst zu werden, welch ein übergreifend bewahrenswertes Gut die Menschenrechte sind.
Wie kann dies gelingen?
Das hat viel mit der Erziehung der Kinder zu tun, und das geschieht ganz entscheidend durch die Mütter. Da gibt’s von den Daten her nichts zu deuteln. In allen Kulturen gilt: Wenn die Mütter gebildet sind, dann geht Gewalt zurück – sowohl häusliche als auch organisierte Gewalt wie Folter und Krieg.
Wo wird überall gefoltert?
Paradoxerweise unterhalten die Vereinten Nationen einen Hilfsfonds für Folteropfer, obwohl die meisten ihrer Mitglieder systematisch foltern. Seit nunmehr 30 Jahren wird das getroffene Abkommen der UN gebrochen. Weltweit sind Menschen in mehr als 100 Staaten betroffen (Amnesty International dokumentiert Fälle durch staatliche Behörden für 141 Länder).
Wie unterscheiden sich die Folterpraktiken?
Wir haben in Konstanz einen Patienten, dessen Gesicht in heißen Teer gedrückt worden ist – eine äußerst brutale Foltermethode. Andere Staaten vermeiden Gewalt, die sichtbare körperliche Wunden hinterlässt. In der Türkei werden beispielsweise Mütter dazu gebracht, ihre eigenen Kinder zu schlagen. Ihnen wird gedroht: Entweder wir schlagen dein Kind, oder du schlägst es selbst. Aus Angst, dass der Folterknecht das Kind sehr viel schlimmer misshandelt, schlägt die Mutter schließlich zu. Mit ähnlich fiesen Methoden werden auch Cousins oder Brüder zum Quälen provoziert. In anderen Ländern werden Menschen gezielt beschämt und erniedrigt – häufig durch sexuelle Folter und Gewalt.
Wie ordnen Sie die von den USA angewandten Foltermethoden ein, etwa das sogenannte Waterboarding, bei dem die Betroffenen das Gefühl haben zu ertrinken?
Das erfolgte unter Einsatz von Erkenntnissen aus moderner psychologischer Forschung. Man macht die Menschen dadurch fertig, dass man ihnen die Folter androht. So wird systematisch Angst produziert und maximiert. Die Angst ist also nicht nur da, wenn der Kopf unter Wasser ist, sondern gerade auch in den Phasen dazwischen. Man signalisiert dem Opfer damit, dann und dann kommst du wieder in die lebensbedrohliche Situation – das ist das Bestialische an dieser Form der Folter.
In Ihrer jüngsten Studie haben Sie sich auch mit der Typologie des Folterers beschäftigt.
Wenn man diese Grausamkeiten betrachtet, fragt man sich natürlich: Wie kann ein Mensch überhaupt in die Situation kommen, dass er anderen so bestialische Dinge zufügt, und das auch noch auf der Grundlage rationaler Planung?
Wird man zum Folterer geboren?
Das glaube ich nicht. Folterknechte haben meist schon während ihrer Kindheit massiv eigene Misshandlungen einschließlich emotionaler Vernachlässigung erlebt. Das machen sich Folterregime systematisch zunutze, indem sie zunächst die bereits belasteten Personen noch weiter misshandeln und auch foltern.
Sind Folteropfer für den Rest des Lebens gezeichnet?
Die Überlebenden werden psychisch krank, wenn sie gedanklich aus dem Folterkeller nicht mehr rauskommen und beispielsweise jede Nacht schweißgebadet aufwachen. Hilfe ist möglich, indem das Erlebte nochmals in vollem Bewusstsein wachgerufen und zeitlich eingeordnet wird. Dazu sind die Betroffenen alleine nicht in der Lage, es bedarf psychologischer Unterstützung. Die Erinnerung selbst wird man jedoch nie löschen können, weil Erinnerung an die Ängste der Folter eine raffinierte Verknüpfung von Millionen von Nervenzellen beinhaltet – dagegen kann es keine Pille geben. Man kann das Erlebte aber als Erinnerung begreifen und lernen, dass es einen in der Gegenwart nicht mehr bedroht.
Welche Erfahrungen machen Sie gegenwärtig in Konstanz?
Wir haben hier eine Ambulanz für Flüchtlinge, die schwere Traumatisierungen erlebt haben – nicht nur in ihren Heimatländern, sondern auch auf der Flucht. Wir haben mehr Personen mit massiven seelischen Leiden und psychischer Funktionsuntüchtigkeit, als wir betreuen können.
Wird insgesamt genügend getan?
Deutschland wendet große Ressourcen auf; dazu kommt eine Welle der Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung. Es ist aber sehr schwer, von heute auf morgen alle notwendigen Strukturen zu schaffen – sowohl was die Unterbringung von Flüchtlingen betrifft als auch die psychologische, psychotherapeutische und sozialarbeiterische Betreuung. Vieles muss bedacht werden. Das beginnt bei den Dolmetschern; sie sind oft selbst Betroffene und brechen in Tränen aus, noch bevor sie eingehend mit den Patienten gesprochen haben. Dazu kommen große kulturspezifische Unterschiede: Bei uns schämt man sich erst, wenn der letzte String-Tanga ausgezogen wird, in anderen Ländern beginnt die Scham bereits, wenn der Knöchel zu sehen ist.
Handelt es sich um ein vorübergehendes Problem?
Nein. Wir müssen uns auf eine dauerhafte Situation einstellen. Es gibt viele Kriegsflüchtlinge, die unter keinen Umständen zurückkehren wollen – auch wenn der Krieg in ihrer Heimat irgendwann vorbei ist. Man muss bei uns also dauerhafte Strukturen schaffen. Ein anderes Problem kommt hinzu: Die am schwersten traumatisierten Personen kommen häufig aus schwierigen Familienverhältnissen. Sie bleiben verletzlich, denn Gewalterfahrungen in den jungen Jahren lassen die Gehirnstrukturen in einer anderen Form wachsen und sich verdrahten als bei Menschen, die in einem friedlichen Umfeld aufwachsen. Das zeigt wiederum, wie wichtig Erziehung ist. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse sind in Deutschland allerdings noch nicht in der Praxis angekommen.
Was kann man konkret tun?
Wir müssen den Eltern beibringen, ihre Kinder richtig zu erziehen – auch wenn das nicht leicht ist, wenn etwa die Mütter in ihren Herkunftsländern selbst nur Unterdrückung erlebt haben. Die Erziehungsarbeit nur den Schulen zu überlassen, wie heute vielfach der Fall, ist ein großer Fehler. Das führt zum Burn-out der Lehrer und zerstört die Klassenstruktur.
Richtig erziehen – das heißt?
Gewaltfrei erziehen, Modelle vorleben, Ziele über Belohnung erreichen und nicht über Bestrafung! Von der psychologischen Seite her wissen wir, was zu tun ist. Die Menschen, die zu uns kommen und Schutz suchen, wissen das jedoch nicht. Wer meint, die Flüchtlinge und ihre Kinder werden sich wie von selbst integrieren und dann als dringend benötigte Fachkräfte für unsere Wirtschaft bereitstehen, ist blauäugig. Das wird nicht passieren, wenn man sich nicht verstärkt um die Erziehungsseite kümmert.