Immer mehr junge Menschen kämpfen mit psychischen Problemen (Symbolbild). Foto: dpa/Nicolas Armer

Auch nach dem Ende der Coronapandemie werden viele Kinder und Jugendliche von psychischen Problemen geplagt. Auf welche Warnsignale Eltern achten sollten und welche Therapieformen es gibt, lesen Sie hier.

Corona ist weitgehend Geschichte, doch an die Stelle des Virus sind in der Wahrnehmung vieler Menschen andere Krisen getreten. Das spiegelt sich auch im Seelenleben von Kindern und Jugendlichen wider. Dr. Joachim Diessner ist Oberarzt der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Zentrum für Psychiatrie Winnenden (ZfP), wo das Weinsberger Klinikum am Weissenhof eine Außenstelle betreibt. Er und seine Kollegen sind für die Versorgung des Rems-Murr-Kreises zuständig. Diessner hat erlebt, wie sich die Lockdown-Zeit auf die Patienten ausgewirkt hat: „Während der Pandemie gab es eine Zunahme – sowohl bei der Häufigkeit von Depressionen, Ängsten und Essstörungen als auch bei deren Schweregrad“, sagt er. Ursachen dafür seien etwa „der anhaltende Strukturverlust, aber auch verminderte Möglichkeiten, Hilfe in Anspruch zu nehmen“.

 

Doch auch jetzt werden viele junge Menschen von Sorgen geplagt. In der aktuellen Studie „Jugend in Deutschland“ nannten Befragte Angst vor der Inflation und einem Krieg in Europa sowie Sorgen wegen des Klimawandels und der Energieknappheit. Diessner betont jedoch, solche Faktoren seien selten alleinige Auslöser einer psychischen Krankheit. „Natürlich können Krisen etwas triggern. Als mit auslösende Faktoren erleben wir aber häufiger Schulschwierigkeiten, Überforderung, Mobbing oder Spannungen in den Peergroups der Jugendlichen.“ Wenn dann noch eine Krisensituation hinzukomme, könne die Summe der Belastungen für manche zu hoch werden.

Die Krankenkasse DAK geht davon aus, dass ein Viertel aller Schüler in Deutschland mit seelischen Problemen zu tun hat. Darunter fallen zum Beispiel Depressionen, Angststörungen, Entwicklungs- und Verhaltensstörungen sowie ADHS. Doch was können Eltern tun, um ernste psychische Probleme bei ihrem Nachwuchs zu erkennen? „Für sie ist es wichtig, wachsam zu sein. Warnsignale können sozialer Rückzug oder Vermeidungsverhalten sein. Manchmal gibt es auch Schlafprobleme“, sagt Diessner. Wenn Kinder oder Jugendliche plötzlich deutlich weniger mit Freunden unternähmen oder sich aus dem bisher geliebten Training zurückziehen, lohne es sich, nachzufragen.

Es wird leichter von Beinbruch gesprochen als von Depression

„Jugendliche können es eigentlich recht gut einschätzen, wenn man sie nach ihrer Energie fragt. Etwa, indem die Eltern sie schätzen lassen, zu wie viel Prozent ihr Akku gerade geladen ist“, sagt Diessner. Seelische Probleme junger Menschen solle man nicht kleinreden: „Die Hälfte aller psychischen Erkrankungen entsteht im Kinder- oder Jugendalter“, so der Fachmann.

Das Erkennen eines Problems reicht aber nicht: Der nächste Schritt, sich tatsächlich deswegen einer Therapie zu unterziehen, muss auch getan werden. Diessner sagt, das Thema psychische Gesundheit sei zwar in der Öffentlichkeit präsenter als noch vor einigen Jahren. „Trotzdem sind psychische Krankheiten nach wie vor schambesetzt. Es fällt den meisten Jugendlichen leichter, in der Schule zu sagen, man sei wegen eines Beinbruchs in der Klinik gewesen als wegen einer Depression.“

Ein neues Konzept macht Hoffnung

Je nach Art und Schwere der Probleme gibt es unterschiedliche Behandlungsformen, die helfen können. Bei der ambulanten Therapie kommen die Patienten für regelmäßige Termine in eine Praxis für Psychotherapie oder eine Klinik. Eine teilstationäre Behandlung in einer Tagesklinik ergebe Sinn, wenn Kinder oder Jugendliche eine intensivere Betreuung bräuchten.

Seit einiger Zeit ergänzt in der Region eine weitere Therapieform das Angebot. Mediziner hoffen, damit auch Familien zu erreichen, die den Schritt in eine Klinik nicht gehen wollen oder können. Das Konzept heißt Stationsäquivalente Behandlung, kurz Stäb, und beinhaltet ein Team aus verschiedenen Fachleuten, die die Patienten täglich zuhause aufsuchen. Bei Verhaltens- oder Essstörungen kann dies besser sein als eine Behandlung in einem fremden Umfeld. Stäb-Plätze gibt es etwa an der Stuttgarter Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie oder am Ludwigsburger Standort des Klinikums am Weißenhof. Die Erfahrungen mit der neuen Behandlungsmethode sind gut – der Preis ist allerdings ein hoher zeitlicher und personeller Aufwand.

In der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Stuttgart hat man mit Stäb gute Erfahrungen gemacht. „Die zusätzlich zu stationären Plätzen geschaffenen Stationsäquivalenten Behandlungsplätze erhöhen die Quantität der Gesamtbehandlungsplätze und führen damit zu einer Entlastung in der stationären Versorgung von Kindern und Jugendlichen“, erklärt der Ärztliche Direktor Professor Oliver Fricke. Allerdings wünsche er sich von den Kostenträgern, dass diese den Aufbau solcher Stäb-Behandlungsplätze „durch eine adäquate Vergütung der Leistungen mittragen würden, die leider noch nicht gesichert ist“, wie er kritisiert.