Der Angeklagte Halil Ibrahim D. dreht den Fotografen und Kamerateams vor dem Prozessauftakt gegen ihn den Rücken zu. Foto: Getty Images Europe

Neun Monate nach seiner Festnahme sitzt ein mutmaßlicher Islamist aus Oberursel erstmals auf der Anklagebank. Hat er einen Anschlag auf ein populäres Frankfurter Radrennen geplant? Das will das Landgericht Frankfurt bis zum Sommer klären – es wird ein schwieriger Indizienprozess.

Frankfurt/Main - Halil Ibrahim D. denkt nicht daran sich zu erheben, als die drei Richter samt Schöffen den Gerichtssaal betreten. Vor sein fahles Gesicht mit den kleinen, blinzelnden Augen und dem dicken schwarzen Vollbart hält er eine Ledermappe, sucht so Schutz vor Fotografen und Fernsehkameras. Trotz mehrfacher Aufforderung der Vorsitzenden Richterin bleibt der Angeklagte sitzen, schweigt erst trotzig und murmelt dann: „Mein islamischer Glaube verbietet es mir, für andere Menschen aufzustehen.“ Der Prozess beginnt für D. mit einer Strafe von 200 Euro Ordnungsgeld, wahlweise vier abzusitzenden Tagen Ordnungshaft. „Er hat dem Gericht nicht die gebotene Ehre erwiesen und die Würde des Gerichtes nicht geachtet“, begründet die Vorsitzende Richterin Clementine Englert.

Der 36-jährige Deutsche mit türkischen Wurzeln ist vor der Staatsschutzkammer des Frankfurter Landgerichts angeklagt, eine schwere staatsgefährdende Straftat vorbereitet zu haben. Am 29. April des vergangenen Jahres wurden D. und seine Frau zuhause in Oberursel (Hochtaunuskreis) festgenommen. Die Polizei vermutet zu jenem Zeitpunkt, dass D. für den 1. Mai einen Sprengstoffanschlag auf das traditionelle Frankfurter Radrennen rund um den Henninger-Turm plant.

74 Zeugen, 14 Sachverständige in 30 Verhandlungstagen

Nach Terrorwarnungen in München, Bremen, Braunschweig und Hannover blieb das wirkliche Ausmaß der Gefahr zuletzt immer unklar. Täter, Hintermänner blieben unentdeckt. Halil D. ist der erste Angeklagte seit den Mitgliedern der Sauerland-Gruppe, der sich wegen dschihadistischen Anschlagsplänen vor Gericht verantworten muss. Er gibt der nebulösen Bedrohung ein Gesicht. Ob zu Recht oder zu Unrecht muss der auf 30 Verhandlungstage angesetzte Prozess zeigen. 74 Zeugen sind geladen, 14 Sachverständige wird das Gericht anhören, um sich ein Bild von D. zu machen.

Bei der Durchsuchung von D.s Kellerwohnung findet die Polizei ein großes Arsenal an Waffen, Waffenteilen und Munition. Sichergestellt werden unter anderem zwei aufgebohrte Schreckschusspistolen, ein Übungsgeschoss für eine Panzerfaust sowie eine zündfähige Rohrbombe, gefüllt mit 239 Nägeln, 22 Stahlkugeln und fünf Blindnieten, wie die Staatsanwaltschaft am Donnerstag in der Anklageschrift vorträgt. Neben der Waffenkammer stoßen die Ermittler auf islamistische Gewaltvideos und 2,9 Liter Wasserstoffperoxid – eine Chemikalie, die sich zur Herstellung von Bomben eignet.

Chemikalienkauf im Baumarkt bringt Ermittler auf die Spur des Angeklagten

Dass D. vier Wochen zuvor einen falschen Namen angibt, als er in einem Baumarkt diese beträchtliche Menge Wasserstoffperoxid kauft, bringt die Ermittler erst auf dessen Spur. Eine Verkäuferin hat Zweifel und ruft die Polizei, nachdem D. und seine Familie den Baumarkt verlassen haben. Anhand eines Fingerabdrucks ermitteln die Beamten die tatsächliche Identität des wegen einer Körperverletzung vorbestraften D. und stellen fest: Weder Polizei noch Verfassungsschutz haben den Mann bisher als sogenannten Gefährder auf dem Radar. Möglicherweise handelt es sich um einen einsamen Wolf – einen Einzeltäter.

Die Beschattung beginnt. In den folgenden vier Wochen stellen die Ermittler fest, dass D. „auf verdächtige Weise“ immer wieder Landstraßen abfährt, auf denen das baldige Radrennen stattfindet; dass er auf Parkplätzen entlang der Strecke Pausen einlegt. Kundschaftet hier jemand einen geeigneten Anschlagsort aus? Die Ermittler befürchten es, wissen allerdings nicht, ob D. allein handelt. Vielleicht gibt es weitere Täter, weitere Bomben, weitere Anschlagsorte. Aus Sicherheitsgründen wird das Radrennen mit mehr als 5000 Teilnehmern am 1. Mai abgesagt.

Erster Verhandlungstag beginnt unter hohen Sicherheitsvorkehrungen

Am ersten Verhandlungstag verliert D. abgesehen vom kleinen Scharmützel rund ums Sitzenbleiben keine Worte. Draußen sichert eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei das Gerichtsgebäude. Drinnen starrt der Angeklagte vor sich hin, würdigt die Vorsitzende Richterin Englert keines Blickes, auch wenn diese ihn anspricht. Dem arbeitslosen ehemaligen Chemiestudenten und Vater zweier Kinder drohen im Fall einer Verurteilung nach dem sogenannten Terrorparagrafen 89a bis zu zehn Jahre Haft.

Seit fast neun Monaten sitzt D. bereits in Untersuchungshaft. Seit seiner ersten Vernehmung beteuert D., er habe das Wasserstoffperoxid zur Bekämpfung von Schimmel in seiner Wohnung gekauft. Einen falschen Namen habe er beim Kauf angegeben, weil er nichts Unrechtes vorgehabt habe und keinen Ärger hätte haben wollen. Tatsächlich finden sich in D.s Wohnung Schimmelflecken, manche schon mit der Chemikalie behandelt, wie ein Gutachter später feststellt.

Anklageschrift bleibt recht unkonkret

Es ist einer von mehreren Punkten, warum das anfangs so stimmige Bild vom Terroristen aus Oberursel Risse bekommen hat. Von Anschlagsplänen auf das Radrennen spricht die Staatsanwaltschaft nun nicht mehr. Es hätten sich keine hinreichenden Beweise dafür finden lassen. Stattdessen heißt es in der Anklageschrift recht unkonkret, D. sei „fest entschlossen gewesen, einen Anschlag auf eine Großveranstaltung zu verüben“. Dafür habe er die Rohrbombe verwenden wollen, gegebenenfalls andere Waffen.

„Eine gänzlich abstrakte Annahme“, kritisiert D.s Wahlverteidiger Ali Aydin, dem das tatsächliche Delikt nicht hinreichend beschrieben ist. Vergeblich versucht Aydin mit diesem Hinweis die Verlesung der Anklageschrift zu verhindern. Aydin sähe das gesamte Verfahren wegen des Terrorparagrafen gerne vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und stellt dafür auch einen Antrag. „Es handelt sich um Pseudotatbestände, die allein zur Gefahrenabwehr geschaffen wurden“, kritisiert der Anwalt. Vor dem Hintergrund des Terrorparagrafen würde aus einer Alltagshandlung wie dem Einkauf in einem Baumarkt plötzlich eine Straftat. Damit sei dieser verfassungswidrig. „Es fehlt noch ein mutiges Gericht, das ein Terrorparagraf-Verfahren dem Bundesverfassungsgericht vorlegt“, sagt Aydin.

Schwieriger Indizienprozess steht bevor

Selbst wenn die Frankfurter Richter auch diesen Antrag der Verteidigung am nächsten Verhandlungstag ablehnen werden: Staatsanwaltschaft und Kammer haben in diesem Indizienprozess eine schwierige Aufgabe vor sich. Einen Anschlag gab es nicht, konkrete Pläne dazu – ob niedergeschrieben oder per Telefonüberwachung eingefangen – auch nicht. Grundlage des Prozesses ist allein ein Aneinanderreihung von Indizien, wenn auch stimmig. Immerhin hatte D. Kontakt zu einem Mitglied der ehemaligen Sauerland-Gruppe. Von Fantasie statt Wirklichkeit spricht die Verteidigung an diesem Punkt.

Nachzuweisen sind D. nur Urkundenfälschung und illegaler Waffenbesitz. Um jedoch zu dem Schluss zu kommen, dass der Angeklagte wirklich einen Sprengstoffanschlag auf eine Großveranstaltung plante, kann sich die Kammer in ihrem Urteil nicht auf gesichertes Wissen stützen, sondern nur auf Annahmen. Das übergeordnete Frankfurter Oberlandesgericht hat die Anklage im Rahmen einer Haftprüfung D.s sogar nachschärfen lassen. Ein klares Indiz, mit welcher Haltung sich auch das Landgericht in diesen juristischen Drahtseilakt begibt.

Die Schwester des Angeklagten sitzt am Donnerstag im restlos gefüllten Zuschauerraum. Im Prozess wolle sie nicht aussagen, erklärt Anwalt Aydin – ebenso wenig wie D.s Frau, die nach ein paar Wochen in Untersuchungshaft wieder entlassen wurde. Ihr konnte keine Beteiligung und kein Wissen über die Waffen nachgewiesen werden. Der Angeklagte lässt am Ende des ersten Verhandlungstages mitteilen, dass er sich später äußern und Angaben zu seiner Person machen wolle. Als Richterin Englert den Angeklagten sodann darauf hinweist, dass ein Geständnis sich strafmildernd für ihn auswirken würde, zieht Halil D. seine Augenbrauen zu einer ungläubigen Miene zusammen – wie so viele Male an diesem ersten Verhandlungstag.