Seit April sitzt die deutsche Journalistin Mesale Tolu wegen angeblicher Terrorunterstützung in einem türkischen Gefängnis. Jetzt hat der Prozess begonnen – und die 33-Jährige überraschte mit einem selbstbewussten Auftritt.
Istanbul - Blass ist Mesale Tolu, als sie mehr als fünf Monate nach ihrer Festnahme am Mittwoch vor Gericht erscheint – blass, aber offensichtlich gefasst und guten Mutes. In einem unterirdischen Saal im riesigen Komplex des Hochsicherheitsgefängnisses Silivri westlich von Istanbul, wo die meisten ihrer Mitangeklagten einsitzen, hat sie in der dritten Reihe zwischen ihren Leidensgenossen Platz genommen - elf Männer und zwei weitere Frauen, alle jung und, bis auf Tolu aus Neu-Ulm, alle türkische Staatsbürger. Den Angeklagten, auch der 33-Jährigen, wird die Unterstützung einer Terrorgruppe vorgeworfen. Für Mesale Tolu – Bundesbürgerin türkischer Abstammung, aber ohne türkischen Pass – fordert die Anklage bis zu 15 Jahre Gefängnis. Sie betrachtet Tolu als staatsfeindliche Aktivistin, die für die verbotene linksextreme Partei MLKP agitierte und unter anderem im Jahr 2015 an Gedenkkundgebungen für Kämpfer aus den Reihen einer syrischen Unterorganisation der kurdischen Terrorgruppe PKK teilnahm.
Mit entschlossener Mine ans Pult
Tolus Verteidigung fällt deutlich offensiver und politischer aus als die der Mitangeklagten. Mit entschlossener Miene tritt sie ans Pult. Warum aus der Teilnahme an legalen Veranstaltungen im Jahr 2015 jetzt, im Jahr 2017, plötzlich Straftaten geworden seien, fragt sie das Gericht und liefert ihre Antwort mit: Weil es seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr keine demokratischen Rechte und Freiheiten mehr gebe in der Türkei. Vor allem auf die Pressefreiheit habe es die Regierung abgesehen, sagt Tolu. „Es geht hier darum, die sozialistische Presse unter Druck zu setzen.“ Ihre Teilnahme an den Beerdigungen sei von der Gewissensfreiheit gedeckt, ihre Teilnahme an den Kundgebungenvon der Meinungsfreiheit, sagt die junge Frau. „Ich fordere meine Freilassung und meinen Freispruch!“
Seit vielen Monaten in Haft
Seit dem 30. April sitzt Tolu nun in Haft. Damals wurde die Übersetzerin bei der linken Nachrichtenagentur Etha in den frühen Morgenstunden von einer Antiterroreinheit der Polizei festgenommen, Mitte Mai kam sie in Untersuchungshaft. Seitdem sitzt sie zusammen mit ihrem kleinen Sohn Serkan im Frauengefängnis im Istanbuler Stadtteil Bakirköy. Die Bundesregierung kritisiert, Tolu und andere Deutsche seien in der Türkei aus politischen Gründen in Haft. Im Gefängniskomplex Silivri warten auch der „Welt“-Journalist Deniz Yücel und der Menschenrechtler Peter Steudtner hinter Gittern auf ihren Prozess.
Tolu sei eine Geisel, sagt ihre Familie. Deshalb beginnt an diesem Morgen in Silivri nicht einfach nur ein weiterer Prozess gegen Terrorverdächtige in der Türkei. Zum ersten Mal befasst sich ein Gericht mit einer Bundesbürgerin, deren Fall einer der Gründe für die erheblichen Spannungen zwischen Ankara und Berlin ist. Tolus Schicksal ist längst zu einer hochpolitischen Angelegenheit geworden.
Tolu sucht den Blick des Vaters
Im Gerichtssaal wirkt Mesale Tolu gepflegt, sie trägt die Haare inzwischen auf knapp Schulterlänge geschnitten und hat sich mit der Kleidung etwas mehr Mühe gegeben als die meisten anderen Angeklagten. Zur Jeans trägt sie ein weißes Hemd, ein tailliertes himmelblaues Jackett und flache Ballerinas. Immer wieder dreht sie sich um und lächelt in den Zuschauerraum, sucht den Blick ihres Vaters und winkt Freunden zu. Nervös wirkt sie nur einen Augenblick lang, während der Vorsitzende Richter die Anklagezusammenfassung verliest – da wippt sie mit dem Fuß, streicht sich durchs Haar und verschränkt dann die Arme vor der Brust, die Hände unter die Achseln geklemmt. Ansonsten flüstert sie mit ihrer Nachbarin, einer jungen Frau im lila Kleid.
Wie die Richter ihren Fall bewerten, bleibt offen. Am Mittwochabend entscheiden sie aber, dass Tolu in Untersuchungshaft bleiben muss. Ihre Anwälte hatten beantragt, sie bis zu einem Urteil auf freien Fuß zu setzen. Das Gericht beschloss dagegen die Freilassung von acht anderen Angeklagten. Sie dürfen das Land aber nicht verlassen und müssen sich regelmäßig bei der Polizei melden.
Seine Tochter sei eine Kämpferin, sagt Ali Riza Tolu, während er vor dem Gerichtssaal auf Einlass wartet. „Und wenn sie rauskommt, bleibt sie in der Türkei und schreibt weiter“, sagt er. „Damit die Völker wissen, in was für einem Land wir hier leben.“ Tolu, der in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland ging und dort eine Familie gründete, campiert seit Monaten in der Türkei, um sich für seine Tochter und deren ebenfalls inhaftierten Ehemann einzusetzen. Zuletzt hat er Mesale an diesem Montag besuchen können. Über die Haftbedingungen im Frauengefängnis Bakirköy will sich Ali Riza Tolu nicht beklagen – sie seien besser als in Silivri und anderen Anstalten, meint er. Seine Tochter lebt mit 17 anderen Frauen zusammen und darf täglich etwa zwei Stunden an die frische Luft. Tolus kleiner Sohn darf in der Gemeinschaftszelle mit einem blauen Ball spielen, andere Spielsachen hat die Gefängnisleitung verboten.
Enttäuscht von der Bundesregierung
Schlecht zu sprechen ist der Vater auf die Bundesregierung und ihre Vertretung in der Türkei. Vor der Bundestagswahl hätten alle große Worte gemacht, sagt er– „und jetzt ist nichts mehr“. Zumindest hätte er den deutschen Botschafter beim Prozess erwartet, doch der ist nicht gekommen, die Bundesrepublik wird von zwei Mitarbeiterinnen des Konsulats in Istanbul vertreten. Auch mehr Politiker hat Ali Riza Tolu sich beim Prozess erhofft, doch erschienen ist nur die Bundestagsabgeordnete Heike Hänsel, Fraktionsvize der Linken. Mesale Tolu sei „der deutsche Pass zum Verhängnis geworden“, meint Hänsel, die sonst keinen Grund für die Haft und Anklage erkennen kann: Die Vorwürfe seien „vollkommen konstruiert“, Tolu sei vielmehr als „Geisel von Erdogan“ in Haft.