Der Mülllastwagen hat das Auto im Straßengraben total zerquetscht, fünf Menschen sind darin gestorben. Foto: SDMG

Ein Müllfahrer, der einen Unfall mit fünf Toten verschuldet hat, erhält ein Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung – der Staatsanwalt sieht in diesem Fall die „Grenzen des Strafrechts“ erreicht.

Nagold - Es ist ein denkwürdiger Tag gewesen am Montag im Tübinger Landgericht – denn selten ist ein Urteilsspruch so geprägt gewesen von Schrecken und Ratlosigkeit. Dies kam auch im Schlusswort der Richterin Mechthild Weinland zum Ausdruck, die nicht den Angeklagten, sondern alle Anwesenden ermahnte: „Wir sollten alle einmal innehalten und uns bewusst werden“, sagte sie, „welche Verantwortung wir beim Fahren eines Autos haben und wie schnell jeder von uns nicht wieder gutzumachendes Leid verursachen kann.“

Ein Jahr auf Bewährung, der Entzug des Führerscheins auf 18 Monate und eine gemeinnützige Spende in Höhe von 1000 Euro – so lautet das Urteil für den 55-jährigen Fahrer eines Müllwagens. Der Lastwagen war am 11. August des vergangenen Jahres bei Nagold in einer Kurve umgekippt und hatte ein entgegenkommendes Auto unter sich begraben. Eine ganze Familie wurde ausgelöscht: die 25-jährige Fahrerin, ihr 22-jähriger Lebensgefährte, ihre zweijährige Tochter, ihr wenige Wochen altes Baby und die 17-jährige Schwester der Fahrerin. Der Verteidiger, der Rechtsanwalt der Nebenkläger, der Staatsanwalt und die Richterin betonten fast unisono am Ende des Prozesses, dass dieses Urteil weder den Angehörigen Frieden geben noch dem Angeklagten die Last von den Schultern nehmen könne. Bei dieser „schrecklichen Tragödie“, sagte der Staatsanwalt Benedikt Quarthal, komme man an die „Grenzen des Strafrechts“.

Versehentlich falschen Hebel betätigt

Das milde erscheinende Urteil sei dem Rechtsgrundsatz geschuldet, dass man vor allem die persönliche Schuld eines Menschen bewerten müsse und nicht allein die Folgen, erklärte die Richterin. Fahrlässigkeit sah die Kammer nur in einem geringeren Umfang. Denn der Unfall scheint sich vor allem deshalb ereignet zu haben, weil der Fahrer unwissentlich einen Hebel falsch bedient hat. Auf der abschüssigen Strecke wollte der Fahrer die Motorbremse einschalten, doch da er an diesem Tag in einem Müllwagen eines anderen Herstellers saß als sonst, befanden sich dort, wo sonst nur ein Hebel war, deren zwei – und er griff an den falschen. Das war der Tempomat, der zunächst dennoch dafür sorgte, dass das Fahrzeug nicht schneller fuhr. Doch nach zehn Sekunden schaltete das Fahrzeug wieder in die Automatik zurück – und beschleunigte dadurch auf der steilen Straße auf bis zu 50 Stundenkilometer.

Bis der Laster umkippte, habe der Fahrer höchstens drei Sekunden gehabt, um zu reagieren, so die Richterin. Vermutlich habe er in Panik gar nichts mehr gemacht, und zwar gerade, weil er vor einiger Zeit schon mal mit einem Wagen umgekippt sei. Im Bundesverkehrsregister sei die Strafe aber getilgt und dürfe daher nur bei der Dauer des Führerscheinentzugs, nicht aber beim Strafmaß eine Rolle spielen.

Angehöriger: Das war fünffacher Mord

Eine Schuld des Fahrers sah die Richterin dennoch in drei Punkten: Er habe sich vor der Fahrt nicht genug mit dem neuen Müllwagen vertraut gemacht, er habe den falschen Hebel bedient, und er habe dann nicht mehr gebremst. Die Höchststrafe für tödliche Verkehrsunfälle liege bei fünf Jahren Haft, wenn es sich um einen verantwortungslosen Raser handle, so Mechthild Weinland weiter. Doch der 55-Jährige sei zunächst langsamer als erlaubt gewesen, er habe keinen Alkohol getrunken gehabt und nicht auf sein Handy geschaut.

Viele Angehörige der Opfer verließen direkt nach der Verkündung des Strafmaßes aus Protest den Gerichtssaal und hörten sich die Begründung nicht mehr an. Viele gehören zum Schaustellergewerbe, und sie machten ihrer Trauer und ihrer Wut auch im Gerichtssaal Luft. Schon am Morgen hatte es für das Plädoyer von Bernd C. Gerritzen, dem Vertreter der Nebenkläger, so viel Applaus von Angehörigen gegeben, dass sich die Vorsitzende Richterin genötigt sah, dies mit einem Verweis zu unterbinden. Ein Mann verließ daraufhin den Saal – für ihn sei das schlicht fünffacher Mord, rief er noch. Der Prozess wurde durch ein ungewöhnlich großes Polizeiaufgebot gesichert.

Staatsanwalt: Kurzzeitiges Versagen

Der Angeklagte dagegen saß den ganzen Tag über unbeweglich auf seinem Stuhl, den Kopf bis auf die Brust geneigt, wie abwesend. Zu einem Schlusswort war er nicht in der Lage. Über seinen Verteidiger Thomas Weiskirchner ließ er aber ausrichten, dass er jedes Urteil akzeptiere. Da eine Revision nur aufgrund von Rechtsfehlern möglich wäre, die aber selbst Gerritzen nicht erkennen kann, werden die Angehörigen das Urteil nicht anfechten. Ob zivilrechtliche Ansprüche auf den 55-Jährigen zukommen, ist unklar.

Zu diesem Tag einer großen Nachdenklichkeit gehörte auch, dass der Staatsanwalt Benedikt Quarthal ein Plädoyer hielt, zu dem der Vertreter der Nebenkläger immer wieder zustimmend nickte und das manchmal fast an die Schlussworte des Verteidigers erinnerte. Die Folgen des Unfalls könnten mit fünf toten Menschen schlimmer fast nicht sein, sagte der Staatsanwalt Quarthal. Aber der Fahrer sei „äußerst angemessen unterwegs gewesen“, es habe sich um ein „kurzzeitiges Versagen“ gehandelt. Er forderte schließlich genau das Strafmaß, das die Richterin später aussprach: ein Jahr auf Bewährung.

Nebenkläger fordert höhere Strafe

Der Vertreter der Nebenkläger war in der Bewertung des Unfalls fast derselben Meinung. Im Strafmaß aber kam Bernd C. Gerritzen zu einem anderen Schluss: Den Angeklagten treffe Schuld, weil er den Lastwagen, den er am Unfalltag fuhr, nicht genug gekannt habe; er hätte sich damit vertraut machen müssen. Außerdem hätte er bei dieser starken Gefällstrecke den Fuß auf dem Bremspedal haben müssen. Er sah daher eine „Fahrlässigkeit im oberen Bereich“ und forderte deshalb eine Freiheitsstrafe von drei Jahren ohne Bewährung.

Der Verteidiger des Angeklagten, Thomas Weiskirchner, griff die Formulierung des Staatsanwalts von den Grenzen des Strafrechtes wieder auf: Man bewege sich auf einem Gebiet, auf dem „selbst wir schlauen Menschen keine Antwort mehr haben.“ Wären denn drei Jahre Gefängnis angemessen bei fünf toten Menschen, wäre es selbst die Höchststrafe von fünf Jahren, fragte er rhetorisch.

Weiskirchner geht ebenfalls von einem „Augenblicksversagen“ aus. Er äußerte im Plädoyer die Ansicht, dass sein Mandant im Gefängnis nicht an der richtigen Stelle sei, unterließ es aber, ein konkretes Strafmaß zu nennen. Sowieso, sagte der Verteidiger, habe der Angeklagte das Urteil über sich selbst schon längst gefällt: „Es lautet lebenslang.“ Sein Mandant sei traumatisiert und werde bis an sein Lebensende über diesen Unfall nicht hinwegkommen. Allerdings befinden sich auch die Eltern und Großeltern der Opfer laut ihrem Anwalt noch immer in psychologischer Behandlung.