Gangolf Stocker als Versammlungsleiter einer Großdemonstration Foto: Kraufmann

Die Stuttgarter Justiz lässt Gangolf Stocker, die einstige Galionsfigur des Protestes gegen Stuttgart 21, nicht vom Haken. Der 69-Jährige steht seit Mittwoch zum wiederholten Male wegen Verstößen gegen das Versammlungsgesetz vor Gericht.

STUTTGART - Verurteilung, Freispruch, Verwerfung des Freispruchs, erneuter Prozess – Gangolf Stocker kennt sich inzwischen bestens aus auf den Fluren der Stuttgarter Gerichte. „Es ist ja in Ordnung, dass die Fragen obergerichtlich geklärt werden. Aber doch nicht immer auf meinem Buckel“, so der einstige Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21. Bis auf Weiteres muss der streitbare Aktivist, der sich allerdings längst aus der Spitze der Protestbewegung zurückgezogen hat, seinen Buckel noch hinhalten.

Das tut er inzwischen allein mit seinem Anwalt Roland Kugler. Unterstützer wie in früheren Zeiten sind am Mittwoch im Saal 105 des Landgerichts Stuttgart nicht zu finden. Die Reihen sind leer. Stocker erlebt eine Art Liebesentzug – zumindest, was den harten Kern der S-21-Gegner betrifft. „Ja, das ist schon so“, sagt er lapidar.

Stocker soll sich als Versammlungsleiter bei vier Demonstrationen gegen das umstrittene Bahnprojekt strafbar gemacht haben. Es geht um vier Großdemos mit mehreren Zehntausend Teilnehmern zwischen Oktober 2010 und Februar 2011 in der Innenstadt. Bei drei Aufzügen soll Stocker zu wenig Ordner eingesetzt haben. Ein Ordner pro 50 Teilnehmer seien ihm auferlegt worden, heißt es. „Wie soll das gehen?“, fragt nicht nur Verteidiger Roland Kugler. Da müsse Stocker, um die Ordner zeitnah instruieren zu können, bis zu 1000 Handynummern bei sich haben. Ein weiterer Vorwurf: Eine Jugendinitiative hatte bei einer Demo Musik über Lautsprecher abgespielt – verboten. Stocker sei dafür haftbar zu machen.

Ein anderes Mal waren Atomkraftgegner aus dem Wendland zur Unterstützung nach Stuttgart gekommen. Und zwar mit Traktoren auf einem Tieflader. „Die haben sich selbst eingeladen“, so Stocker. Er habe auf den Tieflader absprachegemäß auf der Schillerstraße vor dem Bahnhof gewartet. Das große Gefährt sei aber von der anderen Seite gekommen und in den Schlossgarten eingefahren. Der Aufforderung, den Tieflader zu entfernen, sei er nicht nachgekommen. „Das war viel zu gefährlich, viel zu viele Menschen rundherum“, so der Dauerangeklagte.

Auf der nächsten Demo habe Stocker den Einsatzleiter der Polizei gebeten, eine Spur der Heilbronner Straße zu sperren, weil die Protestschar immer größer wurde. Stattdessen habe man moniert, die Sammelbüchsen seien nicht verplombt, so der S-21-Verteran.

Das Amtsgericht hatte Stocker im Juli und im September 2011 zu jeweils 45 Tagessätzen à 60 Euro verurteilt, also zu 5400 Euro Geldstrafe. Er ging in Berufung, das Landgericht sprach ihn im Dezember 2012 frei. Die Staatsanwaltschaft ging vors Oberlandesgericht, das den Freispruch kassierte. Jetzt also wieder eine Berufungskammer des Landgerichts.

Tilman Wagner, Vorsitzender Richter der 38. Strafkammer, regt die Einstellung des Verfahrens an. Die Sache sei alt, die mögliche Strafbarkeit grenzwertig, Stocker sei nicht vorbestraft. Die Staatsanwältin will jedoch einen Schuldspruch. Nur über die Höhe der Geldstrafe lasse sie mit sich reden. Also müssen die geladenen Zeugen vernommen werden.

So wird ein Polizeibeamter gehört, der bei einigen Demos als Einsatzleiter fungiert hatte. Noch ehe der 41-Jährige als Zeuge vernommen wird, will er die Zusicherung, dass er kein Beschuldigter ist – was für einige Verwunderung sorgt. Grund für das ungewöhnliche Ansinnen ist wohl, dass der Beamte bald selbst auf der Anklagebank Platz nehmen muss. Er und ein Kollege sind wegen des Wasserwerfereinsatzes im Schlossgarten am 30. September 2010, dem sogenannten Schwarzen Donnerstag, wegen neunfacher Körperverletzung durch Unterlassen angeklagt.

Da die Staatsanwältin die Einstellung des Verfahrens gegen Gangolf Stocker ablehnt, muss das Gericht am 31. Januar weiterverhandeln. Es soll noch mindestens ein Zeuge gehört werden. Ob das dann fällige Urteil von allen Seiten akzeptiert wird, darf bezweifelt werden.