Mit Handschellen wird der mutmaßliche „Reichsbürger“ in den Gerichtssaal gebracht. Foto: dpa/Bernd Weißbrod

Ein 62-Jähriger muss sich am Stuttgarter Oberlandesgericht verantworten, weil er im Kreis Lörrach einen Polizisten bewusst angefahren haben soll. Der Mann sei aufs Gas gestiegen, weil er glaubte, in Notwehr zu handeln, argumentiert indes die Verteidigung.

Die Bodycam-Aufnahme, die am Montagvormittag einmal mehr in Saal 18 des Oberlandesgerichts gezeigt wurden, sind eindrucksvoll: Vor knapp einem Jahr, am Abend des 7. Februar 2022, verfolgen Polizisten im Kreis Lörrach einen weißen Mercedes. Rund eine Stunde zuvor hatte sich der stark alkoholisierte Fahrer bereits einer ersten Polizeikontrolle entzogen und dann rund eine Stunde in einem Waldgebiet geparkt. Das Versteckspiel misslingt. Als der Mann auf Umwegen wieder in Richtung seiner Wohnadresse fahren will, geht er den Beamten auf der Bundesstraße 3 bei Efringen-Kirchen ins Netz. Doch dann eskaliert die Situation. Statt aufzugeben, versucht der Mann erneut zu fliehen. Es fallen Schüsse, ein Polizeihauptkommissar wird von dem damals 61-Jährigen angefahren und schwer verletzt.

2,5 Sekunden lang im Blickfeld

Bei dem Angeklagten soll es sich laut Bundesanwaltschaft um einen „Reichsbürger“ handeln, der das geltende Rechte- und Wertesystem der Bundesrepublik ablehnt. Dementsprechend lautet eine der zentralen Fragen des Prozesses, ob der Mann bewusst auf den Beamten zusteuerte. Polizisten sagten im Zeugenstand aus, dass die Kollision vermeidbar gewesen wäre. 2,5 Sekunden lang soll der Angeklagte den Polizeihauptkommissar im Blickfeld gehabt haben – jedoch soll dieser in diesem Zeitraum auch zwei Schüsse durch die Windschutzscheibe abgegeben haben. „Ich kann keine Diagnose abgeben, wie man sich in solch einer Situation verhalten müsste“, sagte Jürgen Eckardt, Facharzt für forensische Psychiatrie, am vergangenen Verhandlungstag nach der Begutachtachtung der Videos. Er könne aber nachvollziehen, dass der Angeklagte im Moment der Schussabgabe Todesangst gehabt habe, antworte er auf Nachfrage der Verteidigung. „Menschen sind in der Lage in Extremsituationen schnell zu denken und vernünftig zu handeln. Ob die Steuerungsfähigkeit in diesem Moment gestört ist, ist aber keine psychiatrische Fragestellung, sondern eine juristische Beurteilung“, so der Mediziner.

Auf die sogenannte Putativnotwehr, die besagt, dass der Angeklagte ernsthaft geglaubt habe, sich in einer Notwehrlage zu befinden, wird sich die Verteidigung wohl auch im Plädoyer berufen. Die Schlussvorträge werden voraussichtlich am Freitag, 27. Januar, gehalten.9 Schließlich kam Jürgen Eckardt in seinem Gutachten zu dem Schluss, dass „er erheblich von einer Schuldunfähigkeit entfernt ist“. Weil der Angeklagte nicht bereit war, mit ihm zu sprechen, stützt sich die Untersuchung auf die Aktenlage und Beobachtungen aus der mündlichen Verhandlung. Der Experte konnte weder eine Intelligenzminderung noch eine Persönlichkeits- oder eine tief greifende Bewusstseinsstörung erkennen. „Er hatte keine Wahnvorstellungen, hat die Polizisten als Polizisten wahrgenommen – und nicht als FBI-Agenten oder Aliens.“ Er sehe eine leichte Depression und auch narzisstische Defizite, aber nichts, „was strafrechtlich relevant wäre“, so Eckhardt.

Trotz 1,71 Promille, die der Angeklagte zum Tatzeitpunkt gehabt haben soll, fällt auch Trunkenheit als Kriterium zur Schuldunfähigkeit weg. „Er ist an Alkohol gewöhnt, hat gerne Schorle, Bier und Wein getrunken. Aber nie bei der Arbeit, dementsprechend hat er auch keine sozialen Einschränkungen gehabt“, sagte der Facharzt für Psychiatrie im Zeugenstand. „Die Leberwerte sind unauffällig, er ist weit von einer Abhängigkeit entfernt.“ Dementsprechend sei der 62-Jährige, der im Prozess durch sein höfliches Benehmen aufgefallen sei, auch kein Spiegeltrinker, der erst mit zwei Promille die volle Leistungsfähigkeit abruft. „Auch in Haft hatte er keine Entzugserscheinung.“ Dort ist er mindestens noch bis Freitag, 3. Februar, dann wird das Urteil am Oberlandesgericht erwartet.