Der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel und seine Frau Dilek nach Yücels Freilassung aus dem Gefängnis Foto: AP

Der Prozess gegen den „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel wird in Istanbul seiner Abwesenheit fortgesetzt – das Gericht lehnt einen sofortigen Freispruch ab. Das Verfahren gegen den Reporter zeigt, dass die Justiz trotz des Wahlsiegs von Präsident Recep Tayyip Erdogan hart bleibt.

Istanbul - Die 32. Kammer des Istanbuler Schwurgerichts hat wieder viel zu tun an diesem Donnerstag. Anwälte, Angeklagte und Angehörige warten auf dem Gerichtsflur darauf, dass der Gerichtsdiener sie aufruft. Ein gutes halbes Dutzend Verfahren ist auf dem Terminzettel genannt, der vor dem Gerichtssaal im vierten Stock des Justizpalastes im Istanbuler Stadtteil Caglayan hängt. In allen Prozessen geht es um mutmaßliche Terrorverbrechen. Angeklagter im Fall Nummer Vier ist Deniz Yücel.

 

Mehr als vier Monate ist Yücel schon nicht mehr in der Türkei, und er kommt auch nicht zum Auftakt seines Prozesses nach Caglayan. Nach einem Jahr Untersuchungshaft, während der er von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan als „Agent“ bezeichnet wurde, war der ehemalige Türkei-Korrespondent der „Welt“ im Februar plötzlich auf freien Fuß gesetzt und nach Hause geschickt worden. Doch die türkische Justiz will nicht von ihm lassen.

Yücels Anwalt fordert einen sofortigen Freispruch

Im holzgetäfelten Gerichtssaal verschwinden die drei Richter fast hinter ihren großen Computer-Bildschirmen. „Gerechtigkeit ist die Grundlage des Staates“, steht hinter ihnen an der Wand unter einem Bild von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk. Auf einem Tisch vor der Richterbank türmen sich Akten, Yücels Anwalt Veysel Ok hat einen Ordner vor sich liegen und steht auf. „Sehr geehrter Vorsitzender“, beginnt Ok, doch damit sind die Nettigkeiten auch schon beendet. In einer 20-minütigen Rede nimmt er die dünne Anklageschrift gegen Yücel auseinander, die keinen einzigen stichhaltigen Beweis enthalte. Im Grunde wolle die Anklage den Reporter wegen dessen journalistischer Arbeit ins Gefängnis bringen. Ansonsten habe die Staatsanwaltschaft nichts in der Hand, und das sehe man der dreiseitigen Anklageschrift auch an: Eine halbe Seite davon gehe schon mit Angaben zur Person drauf.

„Diese Anklageschrift ist kein juristisches Dokument“, sagt Ok und fordert sofortigen Freispruch für seinen Mandanten. Die Anklage wirft Yücel wegen seiner „Welt“-Berichte die Unterstützung von Terrororganisationen und Volksverhetzung vor und fordert bis zu 18 Jahre Haft. Seltsamerweise sei es bei der Festnahme des Journalisten Anfang 2017 noch um gehackte E-Mails von Berat Albayrak gegangen, dem türkischen Energieminister und Erdogan-Schwiegersohn. In der Anklageschrift sei davon aber nicht mehr die Rede, sagt Ok. Er verlangt die Entfernung von Yücels Handy-Kontaktliste aus den Gerichtsakten, denn damit würden Politiker, Menschenrechtler und Journalisten in der Türkei zu Terrorhelfern erklärt und gefährdet.

Die Verhaftungswelle geht weiter

Großen Eindruck auf den Vorsitzenden Richter Ömer Günaydin macht der Anwalt damit nicht. Günaydin lehnt Oks Antrag auf Freispruch aufgrund der „Schwere der Vorwürfe“ ab, die Kontaktliste bleibt in den Akten. Außerdem würde das Gericht den Angeklagten gerne vernehmen, entweder per Video aus Deutschland oder schriftlich per Aussage von Yücel vor einem deutschen Gericht. Erst am 20. Dezember soll das Verfahren weitergehen. Mindestens bis dahin bleibt Yücel in den Augen der türkischen Justiz ein mutmaßlicher Terrorhelfer und Volksverhetzer.

In der Nacht vor Yücels Prozess hatte die Polizei in Istanbul die Büros einer regierungskritischen Internetseite durchsucht. Wer geglaubt haben sollte, Erdogan werde nach seiner Bestätigung im Präsidentenamt damit aufhören, reihenweise Kritiker einsperren zu lassen, sieht sich getäuscht. Sezgin Tanrikulu, Oppositionspolitiker und Menschenrechtler, rechnet auch weiterhin nicht mit einem milderen politischen Klima. „Mindestens bis zu den Kommunalwahlen wird das so weitergehen“, sagt er auf dem Korridor vor dem Gerichtssaal. Die Wahlen sind für den 31. März nächsten Jahres vorgesehen. Wenn es im Yücel-Prozess so weitergeht, könnte das Verfahren dann immer noch andauern.