Während die Narren abzogen, endete ein Streit mit einer Messerstecherei. Foto: factum/Weise

Ein 22jähriger Angeklagter beteuert, nur zufällig einen 17-Jährigen niedergestochen zu haben.

Gärtringen - Der Angeklagte ist gerichtserfahren. Das belegt neben der Liste seiner Vorstrafen der juristische Einschlag in seinem Sprachgebrauch. Eine Schlägerei nennt er Vorfall, sein Opfer den Geschädigten. Geht es nach dem Staatsanwalt Andreas Kienle, wird ein weiter Eintrag im Strafregister hinzukommen.

Der 22jährige Mann hat kurz nach Ende des Faschingsumzugs in Gärtringen einen 17-Jährigen niedergestochen. Das ist unstrittig. Zu klären ist vor dem Landgericht Stuttgart allerdings zuoberst, ob er das verbotene Springmesser nur zog, um sich zu verteidigen oder ob er das Opfer eigens durch das Faschingsgetümmel verfolgte, um es niederzustechen. So sieht es die Staatsanwaltschaft. Die Anklage lautet auf versuchten Totschlag. Der Angeklagte hingegen behauptet, er habe nie zustechen wollen: „Es war ein Unfall.“

Seine Familie, Vater, Mutter und zwei jüngere Geschwister, lebt von Sozialhilfe. Schon als Kind fiel der Angeklagte auf. In der siebten Schulklasse weigerten sich seine Lehrer, ihn weiter zu unterrichten. Die Hauptschulen in der näheren Umgebung lehnten allesamt ab, ihn aufzunehmen. Die Schule beendete er in einem Internat für Schwererziehbare. Versuche, auf der Abendschule den Realschulabschluss nachzuholen, scheiterten genauso wie Versuche, einen Beruf zu erlernen, der letzte im Jahr 2012 daran, dass der Lehrling zum ersten Mal in Haft musste.

Der Angeklagte ist nur auf Bewährung frei

An Fasching war er eben erst aus dem Gefängnis entlassen worden. Eine Bekannte habe ihn überredet, nach Gärtringen zum Umzug zu fahren, eigentlich gegen seinen Willen. Sie trafen eine Gruppe Jugendlicher, zu denen das Opfer zählte. Anfangs war die Stimmung friedlich, Alkohol floss in die Kehlen, reichlich, etwa einen halben Liter Rum und anderthalb Liter Whisky mit Cola hatte der Angeklagte getrunken, als ein Streit begann.

Es ging um einen Witz über Faschingsschminke, der wohl missverstanden wurde. Er sei beleidigt, dann geschlagen worden, mit der Faust aufs Auge. Er schlug zurück, dann griff ihn die ganze Gruppe an. Er habe den Streit nicht begonnen und sich nur gewehrt, sagt der Angeklagte. Die eigentliche Tat ereignete sich nach seiner Darstellung so: Fremde schlichteten die Schlägerei und hielten ihn fest, die Gruppe verschwand. Er wollte wegrennen, quer durch die Menge, in eine unbekannte Richtung, weil er fürchtete, wieder verhaftet zu werden. Er ist nur auf Bewährung frei. Rein zufällig traf er auf der Flucht erneut auf die Gruppe.

Die Klinge drang 3,5 Zentimeter tief ein

Wieder ist er von mehreren Gegnern angegriffen worden und verteidigte sich nur. Als er nach einem missratenen Schwinger stolperte und einen Tritt ins Gesicht bekam, zog er das Messer, nicht um zuzustechen, nur um zu drohen. „Ich habe denen gesagt: verpisst euch, die Sache ist gegessen“, erzählt der Angeklagte. Er und das Opfer rangen miteinander, plötzlich steckte das Messer im Bauch des Gegners, irgendwie. „Ich wollte niemanden verletzten, es tut mir leid“, sagt der Angeklagte. Die zehn Zentimeter lange Klinge des Springmessers drang 3,5 Zentimeter tief in den Körper des Opfers ein.

Nach Meinung des Staatsanwaltes hätte der Stich tödlich sein können, und dies sei dem Angeklagten durchaus bewusst gewesen. Die Kriminalpolizei fahndete per Zeugenaufruf nach einem unbekannten Südländer mit Vollbart, der etwa 18 Jahre alt und 1,80 Meter groß ist, womit das Alter um vier Jahre und die Größe um zehn Zentimeter neben den Tatsachen lag. Fast drei Wochen lang dauerte es, bis die Polizei den Gesuchten in Leonberg verhaftete. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft.

Beim Prozess gegen ihn gilt höchste Sicherheitsstufe. Die Polizei kontrolliert sämtliche Zuhörer auf Waffen und registriert ihre Personalausweise, auch Schülerinnen. Jacken oder Handtaschen dürfen trotz der Kontrollen nicht in den Gerichtssaal mitgenommen werden. Die Vorsicht ist weniger der Gefährlichkeit des Angeklagten geschuldet, mehr der Furcht vor eventuellen Befreiungsversuchen der Rockergruppe MC Nomads. Zu der allerdings „habe ich 2014 den Kontakt abgebrochen“, sagt der Angeklagte, „weil ich mein Leben ändern wollte“.