Der 52-jährige Angeklagte sagt, seine Frau habe sich selbst tödlich verletzt. Foto: dpa/Marijan Murat

Der Mann, der seine Ehefrau im Stuttgarter Norden auf offener Straße erstochen haben soll, bestreitet die Tat. Der Staatsanwalt fordert eine Verurteilung wegen Mordes.

Stuttgart - Die Version des Angeklagten sei völlig abwegig und durch die Beweisaufnahme widerlegt, sagt Staatsanwalt Andreas Kienle. Für den Ankläger steht fest: Der 53-jährige Afghane hat seine zehn Jahre jüngere Frau im vorigen Jahr auf offener Straße in Stuttgart am Nordbahnhof erstochen – weil sie sich von ihm trennen wollte. Der Angeklagte bestreitet dies.

Das Paar war 2015 mit seinen vier Kindern aus dem Iran, wo es zeitweise gelebt hatte, nach Deutschland geflüchtet. Schon vor der Flucht habe der Mann seine Frau als sein Eigentum betrachtet, so Staatsanwalt Kienle. Er habe die 42-Jährige bedroht, beleidigt, geschlagen. Das habe sich in Stuttgart fortgesetzt. Der 53-Jährige, der sich als Analphabet bezeichnet, habe seiner Frau eine nicht existente Beziehung zu einem anderen Mann unterstellt, habe sie kontrolliert, ihr befohlen, ein Kopftuchtuch zu tragen, sie beleidigt, gedemütigt und mehrere Male mit dem Tod bedroht, falls sie ihn verlassen sollte. Die Frau habe kaum zum Fenster hinausschauen dürfen, ohne dass der Mann ihr etwas unterstellt habe, sagten die Kinder aus.

Die 42-Jährige habe sich dagegen in Deutschland neu erfunden, habe sich zu integrieren versucht, Deutsch gelernt und Freunde gefunden, so der Anwalt der Kinder, Marc Reschke. Ihr Mann habe diese Entwicklung gestoppt.

Halsschlagader durchtrennt, Rippen durchstoßen

Die Tat, die laut dem Angeklagten gar keine war, hat sich am Abend des 19. Juni 2020 ereignet. Zwei Tage zuvor soll der 53-Jährige gedroht haben, er werde jemanden umbringen. Er habe eine Reisetasche gepackt, wohl für seine Flucht, sagt der Ankläger. An jenem Abend habe es wieder einmal Streit gegeben, der Mann habe die 42-Jährige in der Wohnung an der Nordbahnhofstraße eine „schlechte Frau“ und eine „Hure“ genannt. Die Frau machte sich auf, um eine Freundin zu besuchen – und das auch noch geschminkt. Laut Anklage holte der Mann ein Messer aus der Küche und folgte ihr. Auf dem Bahnsteig der S-Bahn-Haltestelle Nordbahnhof sei es zu einer lautstarken Auseinandersetzung gekommen. Der Mann soll auf sein Opfer erst eingeprügelt, dann eingestochen haben. Das berichten mehrere Zeugen. „Die Frau hatte keine Chance“, so ein Augenzeuge. Die 42-Jährige trug tödliche Verletzungen davon. Die Halsschlagader wurde durchtrennt und Rippen durchbohrt. Ein Passant stieß den Täter zur Seite. Dann soll der Angeklagte das Messer auf einen Zigarettenautomat gelegt haben. Er ließ sich widerstandslos festnehmen.

Das sei ein Mord aus niedrigen Beweggründen, nämlich aus übersteigertem Besitzdenken, gewesen, sagt Staatsanwalt Kienle. Er beantragt vor der 9. Strafkammer des Landgerichts eine lebenslange Freiheitsstrafe für den Angeklagten.

Die Frau soll das Messer gehabt haben

Die Version des 53-Jährigen mutet abenteuerlich an. Nicht er, sondern seine Frau habe ein Messer gezückt und es ihm hingehalten. „Stich mich doch, wenn du mutig bist“, soll sie gesagt haben. Bei dem folgenden Gerangel habe sich die 42-Jährige selbst verletzt. „Ich habe meine Frau nicht getötet“, so der 53-Jährige. Er habe sie geliebt – mehr als sein Leben. Die Rechtsmedizinerin sagt dagegen, es spreche „gar nichts für eine Selbstverletzung“.

Sein Mandant habe sich in einem Ausnahmezustand befunden, sagt Verteidiger Sammy Urcun. Sollte sich die Frau nicht selbst verletzt haben, so habe der 53-Jährige die Tat spontan begangen. Es handele sich nicht um Mord. Der Verteidiger stellt keinen konkreten Strafantrag.

Dem widerspricht Nebenklageanwalt Marc Reschke. Auch ein spontaner Tatentschluss schließe das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe nicht aus. Und sollte das Gericht zu dem Schluss kommen, dass ein Totschlag vorliege, müsse sich die Strafe im zweistelligen Jahresbereich bewegen. „Vom Angeklagten haben wir kein Wort der Reue gehört“, so Reschke.

Die 9. Strafkammer will das Urteil am 28. Januar verkünden.