Proteste in den Nationalfarben Blau und Weiß: In Managua gehen junge Leute gegen Präsident Ortega auf die Straße. Foto: AFP

Die Proteste gegen die autokratische Regierung in Nicaragua haben schon mehr als 400 Tote gefordert. Präsident Ortega flüchtet sich in wirre Verschwörungstheorien.

Managua - Zur falschen Zeit am falschen Ort ist jung sein heute ein Verbrechen“, sagt César. „Wir bangen um unsere Kinder. Sie wären nicht die ersten Unschuldigen, die die Vermummten holen kommen.“ Dem 43-jährigen César R., er verkauft Elektrogeräte, und seiner Frau Martha steht die Angst ins Gesicht geschrieben. Ihre drei Kinder Luísa (13), Álvaro (15) und Joaquín (17) werden heute die dritte Nacht in Folge woanders schlafen. Luísa, in der Not wieder ganz Kind, klammert sich an ihren Rucksack, den Blick scheu nach unten gerichtet.

Es ist halb neun am Abend, die Sonne ist schon untergegangen. In Nicaraguas Hauptstadt Managua herrscht ab 18 Uhr eine inoffizielle Ausgangssperre: Die meisten Geschäfte schließen früh, die Straßen leeren sich nach Anbruch der Dunkelheit zusehends. Und noch immer haben die Kinder keine Herberge.

Die „Vermummten“, vor denen sich César fürchtet, sind paramilitärische Gruppen aus regierungstreuen jungen Männern, die Terror und Schrecken auf den Straßen säen. „Seit dem Angriff auf die Uni am vergangenen Wochenende haben wir mehrfach Drohungen erhalten“, erklärt César. „Die Schergen haben jetzt den Campus übernommen. Sie laufen da mit ihren Maschinenpistolen herum, schüchtern die Leute ein und führen sich auf, als gehöre ihnen alles.“ – „Dabei habe ich den Studenten bloß ein paar Mal Lebensmittel und Kleidung gebracht“, ergänzt Martha.

Studenten suchen in der Kirche Zuflucht

Die Familie wohnt unweit der Nationalen Autonomen Universität Nicaraguas (UNAN). Seit Anfang Mai hatten Studenten die Uni besetzt gehalten – aus Protest gegen die Regierung. Die Polizei drohte mit Räumung. Während die Studenten noch darüber verhandelten, wie sie sicher von dem weitläufigen Campus im Süden der Zwei-Millionen-Metropole abziehen könnten, wurden sie am vergangenen Freitag von einer Großoffensive der Polizei und paramilitärischen Trupps überrannt.

Verzweifelt suchten die jungen Besetzer in einer nahen Kirche Zuflucht. Doch auch dort kamen sie unter Beschuss. Die Polizei verwehrte Mitgliedern der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte und selbst Ambulanzen zum Abtransport der Verletzten den Zutritt. Zwei Studenten wurden durch Kopfschüsse getötet: Einer starb auf den improvisierten Barrikaden, der andere in der Kirche. Etliche wurden schwer verletzt.

Der brutale Einsatz in der UNAN, der letzten Bastion des studentischen Widerstands, ist Teil einer von Präsident Daniel Ortega und seiner Ehefrau – und zugleich Vizepräsidentin – Rosario Murillo so betitelten „Säuberungsoperation“. Über 200 im ganzen Land errichtete Barrikaden und Straßensperren sind gewaltsam geräumt worden. Zuletzt wurde die Oppositionshochburg Masaya zurückerobert. Ihre rebellischen Bewohner hatten die Stadt im Südwesten des Landes einen Monat zuvor zum „Freien Territorium“ erklärt. Er habe vom Präsidentenehepaar den Befehl erhalten, so der Chef der örtlichen Polizei, die Stadt zu „säubern, koste es, was es wolle“.

César hat jemanden gefunden, bei dem die Kinder heute Nacht bleiben können. „Ich bin Sandinist, schon immer gewesen“, stellt er noch klar, kurz bevor die Eltern sich allein zurück auf den Heimweg machen. „Aber was diese Regierung macht, hat nichts mehr mit dem Sandinismus zu tun. Sie schießen auf ihr eigenes Volk, sie massakrieren uns.“

Daniel Ortega war einmal ein Hoffnungsträger

Am 19. Juli feiert das Land traditionell das Ende des Bürgerkriegs und damit auch den Triumph der Revolution über eine von den USA gestützte Familiendiktatur. Sieger war am 19. Juli 1979 die Sandinistische Nationale Befreiungsfront, ursprünglich eine Guerillabewegung nach dem Vorbild der kubanischen Revolution. Für eine ganze Generation wurde die kleine Republik zum Hoffnungsträger.

Daniel Ortega regierte Nicaragua zunächst für elf Jahre. Nach drei gescheiterten Anläufen übernahm er 2007 erneut die Geschicke des Landes. Dann wurde sein Stil immer autoritärer, er schuf sich ein Machtmonopol und besetzte alle wichtigen Institutionen wie das Oberste Gericht und die Wahlbehörde mit Gefolgsmännern.

Unabhängige Sender gibt es nicht mehr

Als „winzige Gruppen, die Hass propagieren“, „vergiftete Seelen“, „blutdurstige Vampire“ und „mittelmäßige Wesen“ bezeichnet Vizepräsidentin Murillo in ihren täglichen Ansprachen die Demonstranten, die in den ersten Tagen des Aufbegehrens im April auf die Straße gingen, um gegen eine Reform des Sozialsystems zu protestieren. Die Rentenbeiträge sollten steigen, die ohnehin mageren Pensionen sinken – so hatte es der Internationale Währungsfonds angeregt. Die Demonstranten, vornehmlich Studenten und Rentner, wurden von Anhängern der sandinistischen Jugendorganisation zusammengeschlagen.

Ortega ließ die wenigen verbliebenen unabhängigen Fernsehsender stilllegen. Doch Handyvideos und Bilder der Gewalt verbreiteten sich in den sozialen Netzwerken und schürten Unmut und Entrüstung. In der Nacht des 19. April kam es zu den ersten Toten. Das Datum sollte der Opposition auch ihren Namen schenken: Bewegung des 19. April. Drei Tage darauf versuchte Ortega einzulenken und kündigte die Rücknahme des Reformplans an. Aber es war zu spät: „Sie sollen abhauen!“, riefen die Demonstranten.

Revolutionskitsch statt Dialog

Zur Feier des 39. Revolutionsjubiläums war die Führungsriege bemüht, Stärke zu zeigen und ihre Gegner Lügen zu strafen. Noch am Vortag hatte die Organisation Amerikanischer Staaten die Regierung aufgefordert, die Paramilitärs zu entwaffnen. Doch das Regime Ortega wies die Fernseh- und Radiosender an, die Kundgebung zu übertragen. Von Liedern Bob Marleys und Joe Cockers begleitet, bewegte sich der perfekt inszenierte Staatsakt zwischen revolutionärem Kitsch und Bierzeltatmosphäre. Ihre Erfolge kämen von „Gottes Hand“, sagte Vizepräsidentin Murillo, flankiert vom kubanischen und vom venezolanischen Außenminister. Nicaragua sei das Opfer einer bewaffneten „Verschwörung des Imperialismus“, behauptete Ortega.

Die Rechte und die Würde der nicaraguanischen Familien seien von den „Putschisten vergewaltigt“ worden, schimpfte Murillo und ließ eine Schweigeminute für die Opfer der vergangenen Monate folgen. Ihr Gatte Ortega verteufelte die Oppositionsbewegung als „satanische Sekte“. Die besetzten Universitäten seien „Folterzentren“ gewesen und die Kirchen zu „Waffenfabriken“ verkommen. Die katholischen Bischöfe, die als Vermittler in einem nationalen Friedensdialog auftraten, seien „parteiisch“, sagt Ortega. Die Bischofskonferenz hatte angeregt, die für Januar 2022 geplante Parlamentswahl auf den nächsten März vorzuziehen. Ortega wies diese Petition kategorisch zurück. Die geistlichen Führer, so seine Forderung, sollten stattdessen lieber die „Dämonen“, die sein friedliebendes Nicaragua heimsuchten, „exorzieren“.

Paramilitärs wüten ungehindert

Die vermummten Paramilitärs, die nach wie vor die Straßen terrorisieren, nennt Ortega „Selbstverteidigungskräfte“. Insgesamt kamen bei den Protesten gegen Ortega nach Angaben einer Menschenrechtsorganisation mehr als 400 Menschen ums Leben, die meisten von ihnen Zivilisten. Jüngst beschloss das mehrheitlich sandinistische Parlament ein Gesetz, das für die Finanzierung von „Terrorismus“ 15 bis 20 Jahre Gefängnis vorsieht. Ungeachtet dessen fluten in der Hauptstadt immer wieder regierungskritische Demonstranten die Straßen. Sie ziehen vor das berüchtigte Gefängnis El Chipote. Dort stehen an normalen Tagen Mütter und Angehörige und warten auf Informationen über inhaftierte Verwandte. Meist vergeblich.