Die Demonstranten blockieren Straßen. Foto: AFP/Bertrand Guay

Dass Macron seine Rentenreform durchdrückt, facht den Zorn der Franzosen an. Er entlädt sich auf den Straßen. Wie gefährlich wird das für den Präsidenten?

Die Hashtags sind unmissverständlich: #revolution lautet einer, ein anderer meint nicht minder klar: #concorde. So heißt der größte Pariser Platz, direkt gegenüber der Nationalversammlung, wo Premierministerin Elisabeth Borne am Donnerstag den Verfassungsartikel 49.3 aktiviert hat, um die Rentenreform ohne Parlamentsabstimmung in Kraft zu setzen.

Das in Frankreich nicht unübliche, aber dennoch undemokratische Vorgehen hat in dem seit Wochen von Protesten heimgesuchten Land wie der Funke im Pulverfass gewirkt: Autos, Mülltonnen und Geschäfte brennen, Böller detonieren, und Tränengasschwaden ziehen über den Place de la Concorde in Paris. Vermummte werfen Pflastersteine auf Gendarme. Barrikaden werden errichtet, die an das Jahr 1789 erinnern, den Beginn der Französischen Revolution. „Es ist 22 Uhr“, twittert ein Aktivist vor Ort. „Paris steht seit vier Stunden in Flammen.“

In Nantes, Lyon, Marseille kommt es zu schweren Ausschreitungen

Andere geben Erfolgsmeldungen durch: „Die Demonstrierenden haben die Polizei umgangen und sind nur noch 500 Meter vom Élysée entfernt.“ Dort steht Emmanuel Macron vielleicht am Fenster und sinniert wie einst der König in Versailles, ob der Mob bald seinen Palast stürmen werde. So weit ist es in Paris noch nicht. Die Polizei sichert das Viertel um den Präsidentenpalast mit hochgerüsteten Einsatzkräften ab.

Aus dem ganzen Land werden Zwischenfälle gemeldet. In Toulouse jubeln Twitter-Stimmen: „Die Polizeisperren fallen eine nach der anderen, wir nähern uns dem Capitole-Platz.“ In Rennes, Nantes, Lyon, Marseille kommt es zu schweren Ausschreitungen und Zusammenstößen mit der Polizei. „Inflation der Wut“, lautet ein Graffito, im Vorbeirennen auf eine Hauswand gesprayt. Die Polizei setzt Wasserwerfer ein, die Gegenseite Leuchtraketen.

Die Demonstranten glauben an ihren Sieg

Bilanz nach einer turbulenten Nacht: 310 Verhaftungen, davon 258 allein in Paris. Viele Verletzte. Es ist unschwer vorherzusehen, dass die Proteste weitergehen werden. Am Freitag blockierten Gewerkschafter und Fernfahrer den „Périphérique“, die Ringautobahn um Paris, was den Verkehr in weiten Teilen der französischen Hauptstadt zum Erliegen brachte.

„Blockiert alles. Wir können noch gewinnen, sie sind allein“, twitterte David Guiraud, junger Abgeordneter der linksradikalen „Unbeugsamen“ (Insoumis). Ihre Fraktion hatte am Donnerstag in der ehrwürdigen Nationalversammlung verbotenerweise Schilder mit der Aufschrift „Nein zum Rentenalter 64“ geschwenkt und die Marseillaise angestimmt – den revolutionären Schlachtgesang, der zur französischen Nationalhymne geworden ist. Die Linksfraktionen sangen so laut, dass Macrons Premierministerin Borne fast übertönt wurde, als sie die Aktivierung des umstrittenen Verfassungsartikels 49.3 bekannt gab.

Ein Politikkrimi in Frankreich

Die Staatsführung hatte bis zur letzten Minute versucht, in der 577-köpfigen Nationalversammlung eine Mehrheit von 289 Stimmen für das neue Rentenalter zu finden. Trotz massiver Konzessionen seitens des Macron-Lagers (250 Sitze) wollten die konservativen Republikaner (61 Sitze) nur zur Hälfte für die Vorlage votieren. Viele gaben zudem keine Stimmenzusage. Macron musste deshalb im letzten Moment den „quarante-neuf trois“ (Neunundvierzig drei) zücken. Er besagt, dass die Regierung die Vorlage über die Köpfe der Parlamentarier für angenommen erklären kann. Unter einer Bedingung: Premier Borne muss sich einer Vertrauensabstimmung stellen.

Frankreichs Präsident Charles de Gaulle hatte 1958 den Artikel 49.3 in die Verfassung der Fünften Republik aufgenommen, um die chronische Instabilität der Vierten Republik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu beenden. Das Ziel wurde erreicht, konnten sich doch auf diese Weise einige Regierungen im Amt halten: Die autoritäre Prozedur ist in Frankreich in den letzten Jahrzehnten hundertmal zum Einsatz gekommen. Rekordhalter ist Michel Rocard: Der sozialistische Premier von 1988 bis 1991 wandte den Artikel 49.3 insgesamt 28-mal an.

Wie Macron seine Reform verteidigt

„Wir müssen mehr arbeiten. Sonst ist unser Umverteilungssystem, das wir auf Pump finanzieren, bald einmal bedroht.“ So hatte Macron seine Reform verteidigt. Doch die Proteste dagegen gehen weiter, die Gewerkschaften rufen für nächsten Donnerstag zu einem neuen – dem neunten – Aktionstag auf. Mit einer weiteren Radikalisierung ist zu rechnen. Die Linksunion Nupès, die Rechtspopulisten und unabhängige Abgeordnete haben zudem am Freitag mehrere Misstrauensanträge eingereicht.

Der Ausgang ist offen. Gegen ein erfolgreiches Misstrauensvotum spricht: Nupès-Chef Jean-Luc Mélenchon macht ungern gemeinsame Sache mit Marine Le Pen. Und die konservativen Republikaner und einige unabhängige Abgeordnete sind wenig erpicht auf einen neuen Wahlkampf. Und sollte das Misstrauen ausgesprochen werden, müsste nicht Macron selbst, sondern Premier Elisabeth Borne aus dem Amt weichen.

Noch sitzt Macron fest im Sattel

Der Präsident dagegen sitzt aufgrund der Machtfülle, die ihm die Verfassung der Fünften Republik einräumt, fest im Sattel. Und das, obwohl er im Zentrum der Kritik der Reformgegner steht. Borne hat am Donnerstag selber eingeräumt, sie sei eine „Sicherung“ für den Staatschef: Wenn die Opposition eine Stimmenmehrheit zustande bringe, müsse sie abtreten. Er nicht. Dabei haben die französischen Medien ein klares Urteil gefällt: Sie sehen Macron keineswegs als Sieger. Le Monde spricht vom Scheitern seiner politischen Strategie.

Das „Pariser Blatt“, immer noch Leitstern der politschen Analyse, macht eine „gefährliche“ Stimmung im Land aus und schreibt: „Eine Krisenatmosphäre liegt über Frankreich.“ Das Fernsehen zeigt Bilder aus Dijon, wo Unbekannte Stoffpuppen von Macron, Borne und zwei zuständigen Ministern am Rande einer Demo verbrannten. Gewerkschafter des Staatskonzerns Electricité de France stellten Abgeordneten, die sich für die Reform ausgesprochen hatten, schlicht den Strom ab. Innenminister Gérald Darmanin ordnete seine Polizeichefs an, die Abgeordneten vor Attacken zu schützen.

Was Le Pen dazu sagt

„Das hat sich Macron selber zuzuschreiben“, erklärte die Rechtspopulistin Le Pen, die in diesem Rentenkonflikt betont staatstragend auftritt. Am Freitag tönte sie: Sollte das neue Rentenalter in Kraft treten, werde sie das ganze Gesetz wieder aufheben, falls sie bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2027 ins Élysée gewählt werde.