Die Demonstranten fordern in London einen neuen Volksentscheid. Foto: dpa

Mehrere Hunderttausend Briten haben gegen den „Brexit-Alptraum“ protestiert. Premierministerin Theresa May bekommt gerät zunehmend unter Druck – auch von den eigenen Parteimitgliedern.

London - Das Brexit-Drama treibt seinem Höhepunkt entgegen – und die Brexit-Gegner haben genug vom Verhandlungs-Chaos in diesem Oktober. Nach dem ergebnislosen Brüsseler Gipfel der letzten Woche beginnt vielen die Lage an der Brexit-Front unheimlich zu werden. Angst davor, ganz ohne Deal aus der EU zu purzeln, macht sich auf der Insel breit.   Kein Wunder, dass der Unmut mit „Theresa Mays Brexit“ nun heftigere Proteste denn je auslöst auf der Insel.

Hunderttausende von Menschen zogen am Samstag durch London, um gegen den EU-Austritt, und vor allem „gegen diese Art von Brexit“, zu demonstrieren.   Nach Angaben der Veranstalter waren es 700 000 Demonstranten – sieben mal so viele wie bei der letzten Kundgebung im Juni. Es waren Leute allen Alters, die sich in der Herbstsonne ihre sternenbesäten Fahnen und hier und da einen Union Jack um die Schultern gehängt hatten.   Es waren Familien mit Kindern, junge Paare, ganze Freundeskreise, Umweltgruppen, kleine Partei-Abordnungen aus allen Ecken und Ende des Königreichs. Musikkapellen gab es, Tanzbären, walisische Drachen und sogar dumpf schellende Kuhglocken „gegen den Brexit-Alptraum“.  

Ein neuer Volkentscheid soll her

Briten aus dem ganzen Land marschierten auf, zusammen mit im Königreich ansässigen Europäern, von denen es immerhin auch mehr als drei Millionen gibt – und die für nächsten März das Schlimmste befürchten.   „Hört endlich auf, mit unserer Zukunft zu spielen“, mahnten viele der Poster, die auf dem Weg vom Hyde Park nach Westminster zu sehen waren. „Lügen, Lügen, Lügen“ hätten die Brexiteers den Leuten 2016 aufgetischt, klagten andere: Für das, was jetzt aufs Vereinigte Königreich zukomme, habe „niemand gestimmt“.   „Die Uhr tickt“, warnte eine von ihrem Träger hoch erhobene Tafel. „Wie müssen endlich wieder die Kontrolle übernehmen“, mahnte eine andere – mit einem ironisch gewendeten Lieblingssatz Boris Johnsons.

In einem jedenfalls waren sich die Demonstranten einig: Nämlich dass ein „Peoples Vote“ gebraucht würde, ein neuer Volksentscheid.   „Klar ist doch, dass uns die Premierministerin nur die Wahl geben will zwischen einem miserablen Deal und überhaupt keinem Deal“, meinte der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, der den Demonstrationszug anführte. „Das ist eine Million Meilen entfernt von dem, was man uns vor zweieinhalb Jahren versprochen hat.“  

Prominente viele Parteien waren bei der Demo dabei

Ob es nun tatsächlich zu einem zweiten Brexit-Referendum kommen wird, weiss in diesen turbulenten Tagen freilich niemand zu sagen. Theresa May hat eine solche Möglichkeit ja mehrfach ausgeschlossen. Das Volk, sagte sie immer wieder, habe seine Abstimmung gehabt.   Erforderlich für ein neues Referendum wäre zweifellos Unterstützung durch die Labour Party. Bei Labour wird aber um dise Frage noch immer hart gerungen.

Die Schottische Nationalpartei dagegen würde, wenn es dazu käme, „bedingungslos“ für ein neues EU-Referendum stimmen. Das bestätigte in einer Leinwand-Zuschaltung zur Demo gestern Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon, zu grossem Applaus.   Liberaldemokraten und Grüne treten schon seit langem für ein zweites Referendum ein. Aber auch immer mehr Tory- und Labour-Hinterbänkler haben sich in jüngster Zeit dafür ausgesprochen. Prominente Abgeordnete praktisch aller Parteien fanden sich so auf der Kundgebungs-Bühne vorm Parlament zusammen, um Einheit zu demonstrieren.   „Dies ist die wichtigste Entscheidung seit Jahrzehnten in unserem Land“, erklärte etwa die konservative Pro-Europäerin Anna Soubry. „Wir weichen nicht. Wir stellen uns unserer Verantwortung.“ Der Vorsitzende der Liberaldemokraten, Sir Vince Cable, verkündete, es gehe nicht an, dass Leute seines Alters „die britische Jugend ihrer Zukunft berauben“. Die Grünen-Vorsitzende Caroline Lukas rief: „Genug ist genug! Wir wollen einen Volksentscheid.“  

Nur 41 Prozent der Briten stehen noch hinter dem Brexit

Dass mittlerweile eine Mehrheit der Wähler ebenso empfindet, legen jüngste Umfragen nahe – nachdem noch vor einem Jahr die meisten Briten ein zweites Referendum für undenkbar gehalten hätten. Auch so manchem früheren Brexit-Befürworter ist neuerdings offenbar mulmig zumute, angesichts der Warnungen vor den ernsten Konsequenzen einer Abspaltung von der EU.  

Einer an diesem Wochenende veröffentlichten Umfrage des YouGov-Instituts zufolge halten jetzt nur noch 41 Prozent aller Briten den Brexit für die richtige Entscheidung, während 47 Prozent den Austritt für falsch halten. Die übrigen 12 Prozent sind sich unschlüssig. Auf sie kommt es im Wesentlichen an.

Theresa May steht unter Beschuss

  Unterdessen ist Regierungschefin Theresa May seit dem Brüsseler Gipfel von den Brexit-Hardlinern wieder unter scharfen Beschuss genommen worden. Gestern feuerte die Rechtspresse aus allen Rohren gegen sie. Die Sunday Times sah sie bereits „in der Todeszone“. Die Sunday Mail prophezeite ihr für kommenden Mittwoch „einen Schauprozess“ durch die eigene Partei.  

In der Tat erwartet die Premierministerin erneut eine schwierige Woche. Am Montag muss sie im Unterhaus und am Dienstag im Kabinett Bericht über ihren Brüssel-Besuch erstatten. Für Mittwoch haben ihre ruhelosen Hinterbänkler sie vorgeladen. Und am Donnerstag wollen ihre Top-Minister sagen, was Sache ist.

Innerhalb und ausserhalb des Kabinetts wächst der Widerstand gegen jegliche Kompromisse mit der EU.   Brexit-Minister Dominic Raab etwa verlangte am Sonntag ein festes Zeitlimit für den britischen Verbleib in der EU-Zollunion. Dabei versicherte May der irischen Regierung in Brüssel, dass es ein solches Zeitlimit wegen der irischen Grenze nicht geben könne. Ein bislang loyaler Tory-Hinterbänkler, der Abgeordnete Johnny Mercer, warf Mays Regierung vor, eine „Scheiss-Show“ zu liefern und alles in allem „funktionsuntüchtig“ zu sein.