Die Rechten machen mobil in Chemnitz. Foto: dpa

Nach dem Tod eines 35-Jährigen in der Nacht zum Sonntag protestieren am Montagabend verschiedene Gruppierungen in Chemnitz. Es ist die größte Demonstration des rechten Spektrums seit vielen Jahren in der Stadt – ein Propagandaerfolg.

Chemnitz - Samstagnacht, kurz vor elf, Brückenstraße am Karl-Marx-Kopf. Eine Frankfurter Sängerin marokkanischer Abstammung performt einen Song, in dem es um ihr Leben zwischen den Welten geht, Kampf um Anerkennung und die Schwierigkeit, aus Scherben ein Haus zu bauen. „Que walou“, „Schon okay“ heißt Namikas Titel im Berberdialekt, und im Publikum singen viele ergriffen mit.

Ein Chemnitzer Stadtfest, das die Schlagzeilen vergangener Jahre hätte vergessen machen können, so durften die Veranstalter da noch hoffen. 2016 wurde heftig über die Sicherheit in der Innenstadt diskutiert. Beim Stadtfest gab es damals Rangeleien, das Netz vibrierte von Gerüchten. Der Abbruch, im Netz schon 2017 herbeifantasiert, kam dann in diesem Jahr. Abseits des Festgeländes und nach Ende der Veranstaltungen wurde auf offener Straße der Chemnitzer Daniel H. niedergestochen. Die mutmaßlichen Täter sind in Haft.

Opfer von beiden Seiten instrumentalisiert

Die rechte Szene in Gestalt einer politisierten und gewaltbereiten Fangruppe des Chemnitzer FC beginnt, im Netz zu mobilisieren. Die Linke ruft zur Gegenaktion auf.

Das Opfer Daniel H., das ist inzwischen bekannt, hatte eine deutsche Mutter, einen kubanischen Vater und einen siebenjährigen Sohn. Linke teilen im Netz, er habe Punk gehört und auf ihrer Seite gestanden – während die Rechte ihn schamlos als Opfer größerer Gewalt für ihre Zwecke reklamiert. „Es wäre ihm nicht recht gewesen, wenn jetzt Rechte oder Linke hier etwas draus machen“, sagt der inmitten des Aufmarschs zunehmend kraftlos wirkende Freund von Daniel H., der neben den Kerzen hockt. Später steht er selbst vor dem Marx-Monument, bei den Rechten.

Sehen Sie im Video die Ereignisse während der Demonstrationen am Montagabend:

Die öffentliche Tragödie des Tages besteht darin, dass von Trauer, von Verlustgefühlen keine Rede sein kann. Von der Brückenstraße schallen die Sprechchöre der Kundgebungen herüber, das Bild des Tatorts wird lange Zeit von alkoholisierten Hooligans und durchziehenden Demonstrantentrupps dominiert. Bevor es dämmert, der Hass durchbricht und Gespräche nicht mehr möglich sind, fragen Fernsehteams die Leute ab. Eine Frau erzählt in eine Kamera, was sie über das Verbrechen der letzten Nacht irgendwo aufgeschnappt hat – längst dementierte Stories. Ein Fernsehteam, das Passanten filmt, wird zunächst angegangen und dann lächelnd in Ruhe gelassen, als es sich ausgewiesen hat: Russisches Fernsehen, Erster Kanal. Ein bärtiger Mann sagt mit Verschwörermiene ins Mikrofon, eine Verurteilung reiche jetzt nicht, es müsse auch abgeschoben werden. Jetzt, nach diesem Tötungsverbrechen, diesem Blutfleck auf dem Straßenpflaster, dessen eigentliche Geschichte noch nicht geschrieben ist.

Kräftemessen der rechten Szene mit dem Staat

Nach Einbruch der Dämmerung setzt sich der rechte Demonstrationszug in Bewegung. Es häufen sich die Rangeleien, bald hallt die Innenstadt von nazistischen Sprechchören, Böllern und Hubschraubergedröhn wider. Es gibt Meldungen von Durchbruchsversuchen, Rochaden der Polizei und von Verletzten.

Es scheint sich zu erfüllen, was wohl schon am Sonntagnachmittag geplant war und zum Abbruch des Stadtfestes geführt hat: ein Kräftemessen der rechten Szene mit dem Staat und seinen Repräsentanten. Der Versuch, den Hass auf die Straßen zu tragen. Am Sonntagnachmittag war eine Spontandemonstration, der die Polizei zunächst wenig entgegenzusetzen hatte, zeitweise eskaliert. 800 bis 1000 Mann, von Rechtsradikalen aufgeputscht, zogen durch die Straßen. Vereinzelt wurden Versuche gefilmt, Menschen anderer Hautfarbe nachzustellen und sie einzuschüchtern.

Die Videoschnipsel und sich steigernde Wortkaskaden im Netz, die in Begriffen wie „Hetzjagd“ und „Pogrom“ gipfelten, ließen den Eindruck entstehen, Chemnitz sei unter die Radikalen gefallen. Es ist ein übertriebener, nur momentweise und lokal zu belegender Eindruck, der vor allem den Urhebern gefallen und in die Hände spielen dürfte. Der Tod von Daniel H. – er ist ein Mobilisierungserfolg für die Naziszene.

Als der rechte Demozug am Montagabend gegen 21 Uhr, begleitet von Hochrufen auf den „Nationalen Sozialismus“, seine Runde durch die Stadt beschließt und am eigentlichen Tatort auf eine kleine Gruppe Trauernder trifft, die dort schweigend verharrt, wird diese pietätvolle Szene durch Hass- und Racherufe der Ankommenden entwürdigt. Que walou? Schon okay? Nicht einmal mehr im Tod.