Zwei Aktivisten lehnen sich aneinander an, vor ihnen Einsatzkräfte der Polizei. Foto: /Anna-Sophie Kächele

Im kleinen Ort Lützerath in Nordrhein-Westfalen stehen sich Polizei und Aktivisten gegenüber. Die Aktivisten wollen den Abriss für die Erweiterung des Braunkohle-Tagebaus nicht akzeptieren. Eine Reportage von vor Ort.

Es ist dunkel, kurz nach halb acht morgens, als durch das mit Aktivisten besetzte Dorf Lützerath Megafon-Durchsagen schallen: „Lützi-Alarm!“, heißt es mehrfach. Vielleicht ist das ein Weckruf an alle Demonstranten, die um diese Uhrzeit noch in den besetzten Häusern, den Baumhäusern oder Zelten schlafen. Eine halbe Stunde später hat sich die erste Reihe von Demonstranten vor den Polizeibeamten gebildet. Sie sitzen auf Rettungsdecken, die das Licht der Scheinwerfer reflektieren. Der starke Wind lenkt den Regen in Böen schräg über den Erdwall, es ist kalt.

Teils müssen Sanitäter gerufen werden

Spaßig ist das Demonstrieren an diesem Morgen sicherlich nicht. Doch die Teilnehmenden sehen keine andere Möglichkeit. Sie wollen den Abriss des ehemals 100 Einwohner großen Dorfs Lützerath für den Braunkohleabbau und die Vergrößerung des Tagebaus Garzweiler II möglichst lange verzögern – länger als die von der Polizei angesetzten vier Wochen für die Räumung.

Um 9.17 Uhr, die Sonne ist mittlerweile aufgegangen, ertönt eine Durchsage der Polizei: Die Aktivisten hätten nun noch eine Viertelstunde Zeit, Lützerath zu verlassen – danach komme es zu „unmittelbarem Zwang“. Kurz darauf werden die ersten Aktivisten weggetragen. Teilweise wird es dabei laut und unübersichtlich. Eine Aktivistin wird gegen die Backsteine gedrückt und benötigt die Versorgung der Sanitäter.

Mehr als 1000 Polizisten im Einsatz

Aus einem Haus wird eine Flasche geworfen sowie Böller gezündet. Eine maskierte Aktivistin, die sich selbst nur als Lea vorstellt, meint später, sie wollten die Polizeibeamten damit nicht treffen, sondern lediglich auf Abstand halten.

Einige Flaschen und Farbbeutel wurden laut Polizei geworfen, außerdem Pyrotechnik eingesetzt. Zwei Beamte wurden verletzt. Die Vielzahl von Aktivisten, die sich dazu entschlossen, „den Bereich hier friedlich und ohne Gegenwehr zu verlassen“ begrüße man und hoffe auf weitere. Mehr als 1000 Polizisten seien im Einsatz.

Räumung wurde gesetzlich bestätigt

Innenministerin Nancy Faeser findet zu den Formen des Widerstands deutliche Worte. „Wer brennende Barrikaden errichtet oder sich in wackligen Baumhäusern versteckt, bringt sich selbst und die Einsatzkräfte in große Gefahr“, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. „Das ist verantwortungslos.“ Sie „habe null Verständnis für Gewalt – und null Verständnis dafür, politische Fragen auf dem Rücken von Polizeibeamtinnen und Polizeibeamten auszutragen“, so die Innenministerin.

Die Grundstücke und die verbliebenen Gebäude in Lützerath gehören bereits dem Energiekonzern RWE, die Räumung wurde gesetzlich bestätigt. Das Kohleverstromungsbeendigungsgesetz sieht die Enteignung vor, wenn der Tagebau energiewirtschaftlich nötig ist. Nur mit der Kohle unter Lützerath könne die Energieversorgung bis zum Kohleausstieg 2030 gesichert werden, heißt es von RWE und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen.

Die Aktivisten berufen sich auf andere Gutachten, etwa das der Universität Flensburg, der Technischen Uni Berlin und dem deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Laut dieser Untersuchung reicht der Vorrat im Abbaugebiet für den Tagebau Garzweiler II auch ohne den von Lützerath. Sie kritisieren: Mit der Tagebauplanung erreiche man nicht die im Pariser Klimavertrag beschlossenen 1,5-Grad-Grenze.

Menschen wurden aus Gräbern geholt

In einem der besetzten Häuser schaut Petra Schumann aus dem Fenster. „Wir brauchen ein Moratorium hier“, ruft sie nach draußen. „Wir können nicht alles abreißen und dann merken, dass es falsch war.“ Sie ist eine der wenigen Aktivistinnen, die ihren echten Namen und Wohnort – Viersen an der Grenze zu den Niederlanden – verraten. „Viele haben Angst vor Strafverfolgung oder auch vor ihren Chefs, wenn sie hier öffentlich protestieren“, sagt sie. Petra Schumann hat keinen Chef, sie ist selbstständig. Und die Besetzung des Hauses sei die erste Straftat ihres Lebens, „abgesehen von ein paar Knöllchen“.

Petra Schumann stammt aus der Gegend; ihre Eltern sind 1996 aus Immerath weggezogen, einem anderen Stadtteil von Erkelenz, der inzwischen für den Tagebau abgerissen wurde. Sie erinnert sich noch gut daran, wie schlimm das für ihre Eltern war; die lange Unsicherheit und das Verlieren einer Heimat: „Wir haben zugeschaut, wie Angehörige aus Gräbern rausgeholt wurden.“ Dass Lützerath abgerissen werde, aber dafür fünf andere Dörfer gerettet wurden, nennt sie einen „faulen Kompromiss“.

In den Baumhäusern wird es nachts kalt

Das Camp in Lützerath wirkt teils wie ein trauriges Festival mit den vielen jungen Menschen, den Zelten und dem matschigen Boden. Es wird gemeinsam gekocht, es gibt eine Spül-Straße, Bier- und Weinflaschen werden in Mülltonnen gesammelt. An vielen Ecken wird Musik gespielt; Klavier, Gitarre oder Geige, einige singen. Auch während der Räumung verteilen Aktivisten Wasser oder Energieriegel. „Wir haben hier viel von anderen gelernt; etwa Klettern“, meint ein junger Mann Anfang 20, der sich Lucio nennt und mit seinem Kumpel namens Kalle seit knapp einer Woche in einem Baumhaus schläft. Die beiden studieren und hätten bald Klausuren, aber man müsse Prioritäten setzen, meinen sie. „Mit dem Wissen um die Klimakatastrophe ist das hier das einzige mögliche rationale Handeln.“

Trotz allem Gemeinschaftsgefühl und aller Kreativität im Camp sei der Protest kein Spaß: „Nachts ist es superkalt“, sagt Kalle. In den ersten Nächten habe er trotz zweier Schlafsäcke nie länger als anderthalb Stunden am Stück schlafen können. Auch die beiden wollen passiv bleiben. Und sie haben sogar Lob für die Polizei übrig: „Bisher wirkt der Einsatz relativ friedlich.“

Landrat spricht von „überzogener Symbolpolitik“

Wenige Meter entfernt sitzen drei junge Menschen auf dem Dach eines selbst errichteten Holzhauses: Vera, Birk und Alfred. Alle sind Mitte 20 und kommen „von weiter weg“, mehr wollen sie nicht verraten. Aber sie sprechen darüber, wie es ihnen geht – und warum manche ihrer Mitstreiter abwesend wirken. „Psychisch waren die letzten Tage ziemlich stressig“, meint Birk. „Man war in ständiger Alarmbereitschaft. Und jetzt ist es traurig, hier die ganzen Polizisten zu sehen.“ Sie hätten keinerlei Hoffnung mehr, dass sich der Abriss des Dorfs noch verhindern lasse. Dennoch wollten sie bleiben, bis sie „rausgetragen werden“, meinen sie. „Wir haben Angst davor. Aber wir hätten noch mehr Angst, wenn wir nichts tun würden.“

Der zuständige Landrat des Kreises Heinsberg, Stephan Pusch (CDU), bezeichnete die Besetzung von Lützerath bei einer Infoveranstaltung am Dienstagabend als „überzogene Symbolpolitik“.

Zur Demo hat sich Greta Thunberg angekündigt

„Es ist unfassbar, was hier passiert“, sagt Milena Steinegger. Die 23-Jährige ist Sprecherin der Gruppe Lützerath lebt!. Sie glaubt noch daran, dass der Protest einen Abrissstopp erzwingen kann, schon jetzt habe die Politik Schwierigkeiten, den Einsatz zu legitimieren. „Wir brauchen nicht die Kohle aus Lützerath. Das Ganze ist ein Schlag ins Gesicht all jener, die schon unter der Klimakatastrophe leiden.“

Das öffentliche Interesse an der Räumung in Lützerath ist immens: Bis Dienstagabend haben sich laut Polizei mehr als 550 Medienvertreter akkreditiert. Sie kommen von überall. Auch die kommenden Tage wird in Lützerath keine Ruhe einkehren. Für Samstag ist eine Großdemo geplant. Dazu hat sich auch die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg angekündigt.